Assistierter Suizid
Erst Verbitterung verstärkt den Todeswunsch
Todeswunsch und Lebensüberdruss müssen nicht automatisch in den Selbstmord führen – alte Menschen wollen leben. Im Rahmen des diesjährigen Arbeitskonvents des Alten Orden von St. Georg in Wien hat der Berliner Psychiater und Psychotherapeut Michael Linden mit den gängigen Vorurteilen und Mythen rund um das vermeintliche Töten auf Verlangen aufgeräumt. Ein Beitrag zum „Sterbeverfügungsgesetz“, das mit 1 . Jänner 2022 in Kraft treten soll.
Die österreichische Bundesregierung hat sich auf eine gesetzliche Neuregelung der Sterbehilfe in Österreich geeinigt und am 23. Oktober den Entwurf für ein „Sterbeverfügungsgesetz“ vorgelegt. Wer Beihilfe zum Suizid in Anspruch nehmen will, kann demnach ab 2022 eine Sterbeverfügung errichten. Der Zugang ist auf dauerhaft schwerkranke oder unheilbar kranke Personen beschränkt. Ausdrücklich ausgeschlossen sind Minderjährige. Das dafür nötige letale Präparat wird in Apotheken erhältlich sein. Begleitend kommt ein Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung und eine entsprechende Finanzierung. Das neue „Sterbeverfügungsgesetz“ ist notwendig geworden, da der Verfassungsgerichtshof (VfGH) das Verbot des assistierten Suizids in Österreich mit Ende 2021 aufgehoben hat – nicht jedoch das Verbot der aktiven Sterbehilfe. Eine „Sterbeverfügung“, mit der man sich zur Möglichkeit des assistierten Suizids entscheidet, kann nur „höchstpersönlich“ vom Betroffenen selbst errichtet werden. Berechtigt dazu ist jede dauerhaft schwerkranke oder unheilbar kranke Person. Diese muss volljährig und entscheidungsfähig sein.
Ungeteiltes Lob kommt in diesem Zusammenhang für den geplanten Ausbau der Palliativ- und Hospizversorgung. In diesem Sinn äußerten sich der in der Bischofskonferenz für Lebensschutzfragen zuständige Innsbrucker Bischof Hermann Glettler und nach ihm die Caritas, das kirchliche Institut für Ehe und Familie (IEF) und der Österreichische Cartellverband (ÖCV). Mit einer ersten Analyse des Gesetzesentwurfes meldete sich auch das von der Bischofskonferenz getragene IEF zu Wort. Die dortige Leiterin für die Abteilung Politik, Stephanie Merckens, bezeichnete das vorgestellte Konzept als „ambivalent“. Es müsse klar sein, dass der Dammbruch in der Frage der Suizidbeihilfe durch den Verfassungsgerichtshof erfolgt sei, so die Juristin. Dieser habe mit seiner „extensiven Interpretation des Selbstbestimmungsrechts“ das generelle Tötungsverbot durchbrochen und den staatlichen Auftrag zum Schutz des Lebens unterminiert. Für Susanne Kummer vom Institut für medizinische Anthropologie und Bioethik (IMABE) gleicht das neue Sterbeverfügungsgesetz einer „Quadratur des Kreises“. Der nun vorliegende Gesetzesentwurf sollte laut Kummer „Suizidverfügung“ heißen, was präziser wäre, denn: „Wünsche für das Lebensende waren bis jetzt gut aufgehoben in den Instrumenten der Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht. Hier geht es um ein Regelwerk zur Selbsttötung mit Hilfe Dritter.“
Todeswunsch und Lebensüberdruss
Beim 21. Sommerlichen Arbeitskonvent des Alten Ordens vom St. Georg in Wien ging der Psychiater und Psychotherapeut Michael Linden auf wenig beachtete Aspekte des Themas ein, wie Todeswunsch und Lebensüberdruss, Alters-Stereotyp und Altersparadoxon, Verbitterung und Töten aus Mitleid. Linden arbeitet an der Berliner Charité mit dem Schwerpunkt Psychosomatik. Er skizzierte in seinem Vortrag die Stufenfolge der Gedanken an eine Beendigung des Lebens: „Lebensbelastung, Hoffnungslosigkeit, Lebensüberdruss, Lebensmüdigkeit, Todesgedanken, Todeswunsch, Suizidgedanken, Suizidplanungen, Suizidintention und Suizidhandlung.“ Daher gelte es, so Linden, scharf zu unterscheiden und differenziert zu denken und hinzuschauen. Denn „ein Todeswunsch hat noch nichts zu tun mit einer Suizidhandlung“. Im höheren Lebensalter gebe es „einen Zuwachs an Todeswünschen und an Lebensüberdruss, aber trotzdem ist der Prozentsatz relativ gering“, so Linden. Natürlich gebe es im Alter „Multimorbidität“: Im Durchschnitt habe ein Mensch mit 80 Jahren 15 Krankheiten, die zwar diagnostizierbar seien, aber nicht alle behandelt werden könnten. Davon seien zwei oder drei Krankheiten „subjektiv belastend“ („Die Knochen tun weh, das Gedächtnis lässt nach“). Zudem sterben die Freunde und Bekannten und es wachse auch das Gefühl der Nutzlosigkeit und der sozialen Vereinsamung.
„Ältere Menschen sehnen nicht immer den Tod herbei“.
Linden räumte auch mit dem Vorurteil auf, dass ältere Menschen den Tod herbeisehnen würden: „Das Gefühl von Lebensüberdruss und Lebensmüdigkeit findet sich quer durch die verschiedenen Lebensalter“. Linden: „Wenn jemand sagt: Ich will nicht mehr leben, so heißt dass nicht, dass er meint, man soll ihn umbringen.“ Suizide und Suizidversuche gebe es mehr bei jüngeren als bei alten Menschen. Lindens Fazit: „Die Jungen haben die Probleme.“ Lebensüberdruss wie auch Antriebslosigkeit gehörten zum Krankheitsbild der Depression. Es gebe keine gesunden, alten Menschen, die Selbstmordabsichten haben. Lebensüberdruss sei bei den Menschen obendrein „kein Dauerthema“. Selbst ein Todeswunsch ist nicht gleichzusetzen mit: das Leben ist nicht lebenswert. Und es gibt das positive „Alters-Paradoxon“. Vereinfacht gesagt: „Ältere Menschen fühlen sich im Leben wohler als jüngere.“ Es gibt zugleich ein negatives Alters-Stereotyp: „Alte und kranke Leute, Behinderte, sind voller Defizite, können nicht mehr, können nicht laufen, und Alter ist überhaupt schlimm.“ Ein negatives Alters-Stereotyp zieht sich durch die ganze Lebensspanne, nach vorne wie nach hinten. Menschen hätten die Tendenz, aus dem eigenen Lebensalter heraus andere Lebensalter zu bewerten. „Das Bild der Alten wird geprägt von 40-Jährigen“, sagte Linden: „Was denkt ein 40-Jähriger über einen 80-Jährigen?“
Eine kleine Gruppe „will nicht mehr“
„Menschen, die am Leben verzweifeln, müssen nicht unbedingt alte Menschen sein“, betonte Linden: „Es handelt sich nur um eine kleine Gruppe von Menschen, die sagen: Ich kann und ich will nicht mehr.“ Wenn dann solche Menschen gefragt werden, wie sie die eigene Endlichkeit erleben, dann zeige sich u. a. auch die Tendenz zur zunehmenden Resignation und Verbitterung, die mit dazu beiträgt, dass das Leben nur noch als Last empfunden wird und die Endlichkeit des eigenen Daseins immer stärker in den Vordergrund des Erlebens tritt.
Die Gefahr der Verbitterung
Ein Blick auf das Befindlichkeitsspektrum von Menschen im höheren Lebensalter (70 bis 100 Jahre) zeige, dass acht Prozent eine „deutliche Verbitterung gegenüber dem Leben haben“. Es sind Menschen, die ein negatives Alters-Stereotyp haben (das Leben als Qual und Hinfälligkeit). „Verbitterung hängt damit zusammen, wie stark das Leiden ist“, betonte Linden. Menschen empfinden ihr Leiden dann als „ungerecht“ („Warum gerade ich?“). Dies alles müsse noch nicht zu einer Selbsttötung führen. Allerdings, so Linden: „Verbitterung bildet eine signifikante Brücke zwischen depressiver Stimmung und Suizidgedanken wie auch Suizidversuchen.“ Dagegen seien geistige Widerstandskraft und Humor und Distanz ein gutes Mittel, so der Psychiater und Psychotherapeut. Wenn jemand verbittert ist, prägt das seine Weltsicht, Verbitterung sei eine Weltanschauung: „So wie wir uns fühlen, so sehen wir die Welt. Wir Menschen denken stimmungsmäßig, und sehen so die Welt und die Vergangenheit.“
Linden nannte als Beispiel auch die menschliche, emotionale Empathie: „Wir projizieren unsere eigene Empfindlichkeit in das Gegenüber. Ein 40-Jähriger sieht einen 80-Jährigen und denkt: Wenn ich in dessen Position wäre, wäre ich tot.“ Mitleid bedeute die Projektion eigenen Erlebens auf eine andere Person und eigenes Leiden wegen einer anderen Person.
„Hilfe“ zum Sterben
Es gebe unterschiedliche „Hilfen“ zum Sterben: „Beratung zur Selbsttötung, Bedrängung zur Selbsttötung, Unterlasssung von Hilfe zur Lebensrettung, die Zur-Verfügungstellung von Mitteln zur Selbsttötung und aktive Hilfe zur Tötung“. Verbitterung sei ansteckend. Linden: „Der Patient ist verbittert und aggressiv und die guten Mitarbeiter im Gesundheitswesen werden dann auch verbittert und aggressiv. Und töten dann reihenweise aus Mitleid.“ Konkret: „Die Täter sind unfähig, Menschen mit schweren Erkrankungen zu versorgen und zu ertragen, weil sie selbst unter deren Zustand leiden.“ Linden verwies auch auf „Weltanschauungen, die handlungsbestimmend“ sind. Dazu zählen die psychologische (emotionale Empathie, Leidenstoleranz), egozentrische (das eigene Wohlergehen steht im Vordergrund), soziozentrische (die Gruppe entscheidet, die Familie etwa), autoritäre (als Krankenschwester mache ich, was der Chef entscheidet), demokratische (Gesetze entscheiden), anthropozentrische (die Menschenwürde steht im Vordergrund) und transzendentale Weltanschauung (radikale Akzeptanz, Unterordnung unter die Weltordnung, Naturgesetze, Gott). „Wenn dann jemand sagt: Ich kann andere nicht leiden sehen, dann weiß man schon, was passieren wird“, spielte Linden auf das Töten aus vermeintlichem Mitleid an. Und: „Vor allem müssen wir die Helfer unter Kontrolle nehmen“, ist der Mediziner überzeugt.
Autor:Stefan Kronthaler aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.