Die Gründerin der Bosnienhilfe
Ein Mensch kann viel bewegen
Seit 30 Jahren hilft Annemarie Kury Menschen in Bosnien. 300.000 Kilometer ist die ehemalige Krankenschwester für dieses Ziel unterwegs gewesen, das sind sieben Erdumrundungen. Am 5. Mai ist sie 90 Jahre alt geworden. „Es geht mir um die Sache, ich bin gar nicht wichtig“, sagt sie beim Interview. Das finden wir nicht. Denn ohne Annemarie Kury wären viele Menschen in Bosnien schlecht dran gewesen.
Auf dem Tisch steht ein Topf mit dampfender, würzig duftender Suppe. „Bosnische Fürstensuppe“, sagt Annemarie Kury und schöpft eine große Portion der köstlichen Hühnerbrühe mit Gemüse in meinen Teller. Genau das Richtige an diesem kühlen Frühlingstag. Annemarie Kury hat ein gutes Gespür dafür, was Menschen guttut – und sie überlegt nicht lange, sondern handelt.
So war es auch an jenem Novemberabend vor 30 1/2 Jahren, an dem sich für sie vieles änderte: Annemarie Kury sitzt in ihrer Wohnung in Wien-Gersthof und sieht im Fernsehen Berichte vom Krieg im ehemaligen Jugoslawien. „Es war furchtbar, weil so viele Vertriebene und Flüchtende aus Ostkroatien nach Zagreb gekommen waren und dort Not herrschte. Ich habe an meine Vertreibung aus dem heutigen Tschechien gedacht und konnte dann nicht schlafen, weil es mich so aufgewühlt hat. Am nächsten Tag habe ich bei der Caritas in Zagreb angerufen und gefragt: Was braucht ihr? Und es war dieser Hilfeschrei: ,Essen, Essen, Essen!‘ Da war für mich klar, ich muss etwas tun.“
Eine Frau der Tat
Annemarie Kury, damals 59 Jahre alt, kratzt ihr Geld zusammen, baut den Beifahrersitz aus ihrem Auto und füllt den Wagen randvoll mit Lebensmitteln. Sie stellt sich selbst ein Empfehlungsschreiben aus, in drei Sprachen, versieht es mit verschiedenen Stempeln und Unterschriften. Um fünf Uhr früh am nächsten Tag, einem Mittwoch, schlüpft sie in ihre alte Schwesterntracht und fährt nach Zagreb. „Mit der Leiterin der Caritas habe ich Kekse, Trockenmilch, Babynahrung, Suppensackerl usw. verteilt. Als alles ausgeteilt war, ist eine Frau mit ihrem Kind am Arm gekommen, beide weinend, und hat gefragt, ob ich noch etwas zu essen habe. Es hat mir so wehgetan, dass ich ihr nichts geben konnte. Da habe ich gesagt: Ich komm‘ wieder, nächsten Mittwoch.“
Von jetzt an fährt Annemarie Kury Mittwoch für Mittwoch nach Zagreb und Umgebung, bringt Essen, Hygieneartikel, Winterkleidung und vieles mehr, das sie in Wien kauft oder bei Bekannten und in ihrer Pfarre sammelt. Eines Tages trifft sie auf einem Parkplatz zwei LKW-Fahrer, die ihr von Bosnien erzählen. In Kroatien, sagen die beiden, hungern die Menschen, in Bosnien verhungern sie. „Das war wieder so ein Moment, dass ich gedacht habe: Vielleicht kann ich etwas tun.“
Mitten ins Kriegsgebiet
Ab dem Frühjahr 1994 bringt Annemarie Kury Hilfsgüter nach Bosnien. Vier Tage braucht sie für den Weg in den Nordosten, nach Tuzla, hinein ins Kriegsgebiet. „Gefürchtet habe ich mich nicht“, sagt Annemarie Kury, „ich weiß nicht, warum. Es war mir einfach so wichtig.“
Hühner und Ziegen
Sie weiß, was es bedeutet, die Heimat verlassen zu müssen. Deshalb möchte sie alles dafür tun, dass die Menschen in Bosnien in ihrer Heimat bleiben können. Sie sammelt in ihrem stetig wachsenden Spenderkreis Geld für Baumaterial, damit die zerstörten Häuser wieder aufgebaut werden können. Sie verteilt Saatgut, kauft Hühner, und als eine Witwe von Milch für ihre Kinder träumt, fährt Annemarie Kury zum nächsten Ziegenmarkt: „Ich war die einzige Frau dort und hatte keine Ahnung, wie ich die Ziege aussuchen soll!“ Sie erwischt eine trächtige Ziege und bald sind aus einer Ziege drei geworden. Einigen Familien kann Annemarie Kury Felder kaufen. Und sie sorgt dafür, dass Kinder und Jugendliche eine gute Ausbildung bekommen. Sie hilft mit dem, was gebraucht wird. Für jede Familie nimmt sie sich Zeit, besucht sie, beobachtet, hört zu und sucht nach Lösungen. Sie bringt Hoffnung.
Schritte der Hoffnung
In einem Dorf begegnet sie der damals etwa einjährigen Samra. Ihre Kniegelenke sind verdreht, sodass sie nicht einmal sitzen kann. Zurück in Österreich klappert Annemarie Kury mit einem Foto des Mädchens die Ärzteschaft ab, bis sie jemanden findet, der Samra operiert. Jetzt kann sie sitzen und sogar stehen. Noch in Österreich kommt Samras Schwester Asra zur Welt, als Frühgeburt und schwer spastisch. Beide Mädchen brauchen in Bosnien eine Physiotherapie, doch die einzigen Therapeutinnen praktizieren in einem kleinen Häuschen auf einem steilen Hügel, auf den man mit Rollstühlen kaum hinaufkommt. Viele Jahre lang versucht Annemarie Kury, ein gut zugängliches Therapiezentrum aufzubauen, der Bedarf in Tuzla ist groß. 2010 gelingt es ihr mit Hilfe der Raiffeisenbank, die Löhne aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zahlt bis heute die Firma XXX-Lutz. „Korace Nade“ heißt dieses Therapiezentrum in Tuzla, „Schritte der Hoffnung“.
Pensionshobby
188 Mal ist Annemarie Kury als Hilfs- und Hoffnungsspenderin unterwegs gewesen. Etwa zwei Millionen Euro an Spenden hat sie in den letzten 30 Jahren gesammelt, und das, ohne auch nur einen Cent für Werbung auszugeben. „Jeder Euro und damals Schilling kommt ohne jeden Abzug zu den Ärmsten, das wissen meine Spender und Spenderinnen.“ Die Bosnienhilfe ist ihr „Pensionshobby“, in das sie ihre Zeit, ihr Geld und ihre Energie steckt. „In Bosnien gibt es sehr viele Menschen, die im Krieg nahe Verwandte verloren haben. Es gibt ganz grausame Dinge, die mich jedes Mal erschüttern. Aber das ist gut so, weil man dann mit den Menschen besser in Kontakt kommt.“
Höhen und Tiefen
Annemarie Kurys Leben wurde auch oft erschüttert. Sie ist vier Jahre alt, als ihr älterer Bruder stirbt, am Tag vor Weihnachten. Zehn Jahre später muss sie ihre Heimat Böhmen, Verwandte und Freunde verlassen und in ihrer neuen Heimat, der Steiermark, um Essen betteln. „Ein Bauer hat mir den Hund nachgejagt. Das sind bittere Erinnerungen.“ In Wien wird sie Krankenschwester, heiratet und bekommt fünf Kinder. Dann verunglückt ihr Mann bei einer Bergtour in Pakistan. Jahre später geht sie mit ihren Kindern seinen Spuren nach. Ihr Vater stirbt und ihr jüngerer Bruder, der ihre große Stütze war. Vor zwölf Jahren ertrinkt ihr Sohn nach einem Herzversagen beim Rudern. Es sind diese schmerzvollen Erfahrungen, die Annemarie Kury zur Weltumrunderin im Dienste ihrer Mitmenschen gemacht haben. „Ich kann mit meiner Erfahrung manchmal anderen helfen.“
Reiche Ernte
Die Bosnische Fürstensuppe, die Annemarie Kury für unser Treffen gekocht hat, ist längst ausgelöffelt und auch der Kuchen, den sie serviert hat, ist verzehrt. Sie könnte noch viele, viele Geschichten erzählen. Zum Beispiel die von Seifo aus dem Waisenhaus, der Patenkind der Bosnienhilfe wurde. „Er wollte immer nur Fußball spielen und nicht so gern lernen. Wir haben ihn immer wieder motiviert, und ich bin so glücklich, weil er erfolgreich Sportwissenschaft studiert hat, Jugendgruppen trainiert und ein glücklicher Mensch auf einem guten Weg ist.“
Oder die Geschichte von Svjetlana, die als Teenager vom Kirschbaum gefallen und seither querschnittgelähmt ist. Sie verbrachte ihre Tage vor dem Fernseher, bevor Annemarie Kury ihr den Traum von einem Studium ermöglichte. Heute arbeitet sie als Psychotherapeutin und Psychologin im Therapiezentrum „Korace Nade“ und ist für Kinder und Eltern wie auch für das Team eine große Stütze. „Ich kann jetzt ein bisschen ernten – ich sehe, was aus den Menschen geworden ist“, freut sich Annemarie Kury, „es ist so schön, wenn man geben kann. Ich bin beglückt, dass ich das immer wieder tun durfte.“ Nach 90 Lebensjahren hat sie das Gefühl, ihr Leid hat Früchte getragen.
Autor:Monika Fischer aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
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