Zufluchtsort für geächtete Kinder
Die Geheimschule der Ursulinen
Wie wichtig die Schule als Ort des sozialen Lebens für Kinder und Jugendliche ist, zeigte uns die Corona-Pandemie.
Die Schülerinnen der Ursulinen mussten 1938 die Schließung ihrer Schulen erfahren. Die Nationalsozialisten verboten den pädagogisch engagierten Ordensschwestern jede Lehrtätigkeit. Die mutige Ordensfrau Sr. Lucia Vecerka widersetzte sich diesem Verbot und unterrichtete heimlich weiter.
Nora Pärr, Historikerin und Archivarin des Ordens, berichtet über die Hintergründe.
Im Schicksals-Jahr 1938 konnten die Ursulinen in Wien bereits auf eine jahrhundertealte Tradition als Schulorden zurückblicken. „Im Jahr 1660 wurden von Lüttich aus auf Wunsch Kaiserin Eleonoras einige Ursulinen nach Wien berufen. Ursprünglicher Standort war zunächst die Dorotheergasse, später die Johannesgasse“, erzählt die Archivarin des Ordens Nora Pärr im Gespräch mit dem SONNTAG.
Während der Türkenbelagerung 1683 flüchteten sich die Ordensfrauen in ihre weitläufigen Keller im Zentrum Wiens, wo sie bei Kerzenschein den berühmten „Rosenornat“ stickten. Dieser ist heute im Dommuseum Wien zu besichtigen.
„Kaiserin Maria Theresia schätzte den Orden ganz besonders. Bei einem ihrer Besuche im Kloster sagte sie, dass sie, wenn sie Ordensfrau geworden wäre, gerne Ursuline geworden wäre“, schildert die Historikerin. Unter Joseph II. wurde der Orden aufgrund seiner regen Schultätigkeit – anders als so viele andere Klostergemeinschaften – nicht aufgelöst.
Die Nachfrage nach Schulplätzen bei den Ursulinen wuchs im weiteren Verlauf der Geschichte so stark an, dass weitere Schulgebäude in Währing (und später in Mauer) errichtet wurden.
- Warum waren die Schulen der Ursulinen so beliebt?
Nora Pärr: „Die Ursulinen pflegten eine relativ liberale Erziehung mit einfachen Erziehungsgrundsätzen und Spielregeln. Liebe wird als oberster Erziehungsgrundsatz angesehen. Schon die Ordensgründerin Angela Merici setzte stark auf Eigenverantwortlichkeit. Kernziel ist die Entfaltung der Persönlichkeit und Förderung der Kreativität.“
„Schule ohne Kinder ist wie ein Wrack“
Ein schwerer Schlag traf die pädagogisch engagierten Ordensfrauen mit dem Anschluss Österreichs an das Dritte Reich. 1938 mussten die Ursulinen sämtliche Unterrichtstätigkeit einstellen und alle ihre Schulen schließen. Erziehung und Unterricht sollten von nun an ausschließlich in der Hand der nationalsozialistischen Machthaber sein.
„Die bestimmende Persönlichkeit in dieser Zeit war Sr. Dr. Mater Lucia Vecerka. Sie war bis 1938 Direktorin des Mädchenrealgymnasiums in der Johannesgasse sowie der Lehrerinnenbildungsanstalt samt Übungsschule in Währing“, erzählt Archivarin Nora Pärr.
Die Wienerin Maria Lucia Vecerka (1882–1971) war 1916 in den Orden der Ursulinen eingetreten und absolvierte ein Studium der Mathematik und Philosophie an der Universität Wien. 1926 promovierte sie in Psychologie bei der Entwicklungspsychologin Charlotte Bühler.
Tief getroffen von der Schulschließung hielt Sr. Mater Lucia Vecerka 1938 in ihren Aufzeichnungen fest: „Im heutigen Staat sind wir überflüssig geworden, da man uns die Fähigkeit aberkennt, die Kinder zu guten Staatsbürgern zu erziehen.“ Weiters notierte sie: „Ein Erziehungshaus ohne Kinder ist wie ein Wrack, das sich vielleicht noch mühsam an ein anderes Ufer retten kann, aber nie mehr Schiff sein wird. – Herrgott. Wie prüfst du uns schwer!“
Quellen wie die Klosterchronik und Briefe aus den Jahren 1938 bis 1945 belegen die bedrängte Lage der Ursulinen in dieser Zeit. „Eine besonders wichtige Quelle ist die ,oral history‘, heute noch lebende Ursulinen haben ihre Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg erzählt“, schildert Ordensarchivarin Nora Pärr.
Ein großer Teil der ehemaligen Klosterschule und des Klosters in der Johannesgasse wurde bis auf wenige Räume von den nationalsozialistischen Machthabern für militärische Zwecke beschlagnahmt. „Das ganze Schulhaus wurde vom Luftgaukommando übernommen. Schweren Herzens räumten die Schwestern Lehrmittel, Bilder, Amtsschriften und Bibliothek hinüber ins Kloster. Alles Übrige übernahm die Luftwaffenschule“, so Nora Pärr.
Trotz des Unterrichtsverbots gingen die Ordensfrauen unter der Leitung von Sr. Mater Vecerka daran, weiterhin Kinder heimlich zu unterrichten – und zwar solche, denen es im Dritten Reich verboten war, eine offizielle Schule zu besuchen, darunter „nichtarische“ sowie Kinder mit körperlichen und geistigen Gebrechen oder Kinder von Ausländern.
„Um nicht aufzufallen, wechselten wir die Eingänge und betraten das Haus abwechselnd durch die Kirche, die Klosterpforte in der Johannesgasse oder das Haustor in der Annagasse. M. Lucia wies uns an: ‚Wenn euch jemand fragt, ob und was ihr hier lernt, dann sagt: Maschinschreiben, Stenographie und Handarbeiten ...‘ Es war Mischlingen und Juden nämlich verboten, geistige Bildung zu erhalten“, berichtet ein Zeitdokument aus dem Klosterarchiv.
Dass die Ursulinen Kinder unterrichteten, die ansonsten keine Bildungsmöglichkeit gehabt hätten, sprach sich heimlich herum, die Schülerzahl der Geheimschule wuchs kontinuierlich.
Schützende Hand und Tarnkappe Gottes
- Doch konnten derartige Aktivitäten tatsächlich geheim gehalten werden?
Nora Pärr sagt: „Die Geheimschule in der Johannesgasse war im selben Gebäude wie die Gestapo untergebracht. Wie sich anhand des Quellenstudiums in den Ordenschroniken herausgestellt hat, war die Geheimschule den Gestapo-Leuten aber durchaus bekannt und wurde von diesen geduldet.“
Hinzukommt, dass die gesamte Schulliegenschaft vom Luftgaukommando übernommen worden war und es so nie zu Überprüfungen durch die Gestapo kam.
Eine der Schülerinnen war die Autorin Ilse Aichinger. In ihrer Erzählung „US – Eine Geschichte von der Treue“ spricht sie davon, dass die ehemaligen Ursulinenschülerinnen und nunmehr „regulären“ Schülerinnen an NS-Schulen die Kinder der Geheimschule darum beneideten, weiterhin von den Ordensschwestern unterrichtet zu werden. Über die Geheimschule schreibt Ilse Aichinger: „Wie eine Mutter hat es (das Kloster) auch die Verfolgten, Geächteten, die aus irgendeinem Grund nicht würdig waren, eine deutsche Schule zu besuchen, in seinen tiefen, weiten Gängen und in den wenigen kleinen Klassen, die ihm geblieben sind, geborgen und aufgefangen.“
Für ihren mutigen Einsatz erhielt Sr. Mater Lucia Vecerka 1949 als erste Ordensfrau in Österreich den Titel Hofrat – sie wurde von nun an „Mater Hofrat“ (!) genannt – und wurde 1969 mit dem Großen Ehrenzeichen für die Verdienste um die Republik Österreich geehrt.
Über die Geheimschule schrieb Mater Hofrat anlässlich des 25-jährigen Bestandes des Mädchenrealgymnasiums St. Ursula: „Dass diese Art unserer Wirksamkeit mit großen Gefahren verbunden war, leuchtet wohl jedem ein.
Aber Gott hielt über uns seine schützende Hand und vielleicht auch eine Tarnkappe; denn sonst wäre es nicht möglich gewesen, dass durch unsere Klosterpforte täglich so viele Kinder ein und aus gehen konnten und wir von der Gestapo unbehelligt blieben.“
Autor:Agathe Lauber-Gansterer aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
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