Kränkungen der Menschheit
Der Betrieb des Gehirns ist "teuer"

Kurt Kotrschal: Mit der Sprache kam auch die Möglichkeit in die Welt, mentale Zeitreisen zu unternehmen und sozial zu teilen. Damit ergab sich auch die für Individuen und Ethnien [Menschengruppen mit einheitlicher Kultur] überlebenswichtige Notwendigkeit, sich mit den Dingen und Lebewesen der Welt in Beziehung zu setzen und mittels unseres „ratiomorphen [vernunftähnlichen] Apparates“ deren und die eigene Existenz zu erklären.  | Foto: Brandstätter
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  • Kurt Kotrschal: Mit der Sprache kam auch die Möglichkeit in die Welt, mentale Zeitreisen zu unternehmen und sozial zu teilen. Damit ergab sich auch die für Individuen und Ethnien [Menschengruppen mit einheitlicher Kultur] überlebenswichtige Notwendigkeit, sich mit den Dingen und Lebewesen der Welt in Beziehung zu setzen und mittels unseres „ratiomorphen [vernunftähnlichen] Apparates“ deren und die eigene Existenz zu erklären.
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Wie hat sich der Mensch entwickelt? Welche Rolle spielt dabei die Evolution und wie geht der Mensch mit der Tatsache um, dass er durch sein entwickeltes Gehirn zu Höchstleistungen fähig ist? Und was kann/soll der Mensch heute tun?

Der Wiener Biologe Kurt Kotrschal über den gegenwärtigen Menschen angesichts von Fremdenfeindlichkeit und Corona-Pandemie.

Nach Sigmund Freud gibt es drei große Kränkungen der Menschheit.

  1. Die kosmologische Kränkung war die Entdeckung, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist.
  2. Die biologische Kränkung lag in der Entdeckung, dass der Mensch aus der Tierreihe hervorgegangen ist (Charles Darwin).
  3. Und die psychologische Kränkung bestehe darin, dass das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus.

Im Wintersemester beschäftigen sich die „Theologischen Kurse“ mit diesen „Kränkungen“ der Menschheit.

„Persönlich sehe ich die Rede von den angeblichen Kränkungen durch naturwissenschaftliche Erkenntnis kritisch“, sagt der emeritierte Wiener Universitätsprofessor Kurt Kotrschal, Biologe und Verhaltensforscher.

Seine Begründung: „Denn sie resultieren aus überzogener, ideologisch und machtpolitisch gestützten Selbstüberhöhung, etwa aus der Fehleinschätzung, das Geisteswesen Mensch hätte sich vom Naturwesen emanzipiert; oder aus der in den Buchreligionen selbst angemaßten Sonderstellung des Menschen als Ebenbild Gottes. Der Begriff der „Kränkungen“ enthalte immer auch Kritik am Humanismus der Aufklärung.

„Heute ist klar, dass die menschliche Natur mit allen ihren körperlichen und geistigen Merkmalen in einer gut nachvollziehbaren evolutionären Geschichte entstand“, sagt Kotrschal: „Für mich resultiert aus diesem Wissen keine Kränkung, sondern im Gegenteil ein Bewusstsein, Teil des großen ganzen Lebendigen zu sein.“

  • Was sind für Sie die zentralen Schlüsselinnovationen, die den Menschen hervorbrachten?

Kurt Kotrschal: Dazu zählen bereits die Entwicklung „echter Kiefer“ aus Kiemenbögen vor etwa 500 Millionen Jahren und dessen Umbau in ein „sekundäres“ Kiefer, verbunden mit Heterodontie [das Vorhandensein verschiedenartig ausgebildeter Zahngruppen in einem Gebiss] und einem belastbaren Schädel auf dem Weg zu den Säugetieren vor etwa 200 Millionen Jahren. Denn sie schufen Voraussetzungen für die Evolution eines der wenigen menschlichen Alleinstellungsmerkmale, des einzigartig großen und leistungsfähigen Gehirns.

Bei etwa 2 Prozent der Körpermasse beansprucht diese Grundlage für den Geist 20 Prozent der für den Grundumsatz benötigten Energie. Sein „Betrieb“ ist also teuer, auch weil es eines gleichwarmen Körpers bedarf, um es optimal zu nutzen. Diese Homoeothermie [Warmblütigkeit] wurde mehrmals parallel am Weg von den Reptilien zu den Vögeln und Säugetieren entwickelt.

Die entscheidende Schlüsselinnovation in der Menschwerdung liegt aber zweifellos in den komplexen Wechselwirkungen zwischen einem komplexen Sozialleben, einschließlich der typisch menschlichen Symbolsprache und dem damit verbundenen Hochleistungstuning des menschlichen Gehirns.

  • Wie wichtig ist in der Evolution des Menschen das Dazugehören?

Extrem wichtig, da Menschen in all ihren Merkmalen im Vergleich mit anderen Tieren extrem sozial spezialisiert sind. Dazugehören ist auch heute noch überlebenswichtig, wie der lebensbedrohliche Ausschluss aus zentralen Sozialisierungen, etwa durch Mobbing, zeigt.

Es liegt in der Natur des Menschen, dass ein gelingendes Leben vor allem von Sinn und sozialer Einbettung abhängt, und von einem Bewusstsein des Angenommen-Sein und Geliebt-Werden.

In den ersten Lebensjahren ist eine zuverlässige und sensitive Fürsorge, gepaart mit Kontakt zu Tieren und Natur unerlässlich, damit sich Individuen auf Basis ihrer Gene, ihres Epigenoms [das Epigenom kann durch Umgebungsbedingungen dynamisch verändert werden] sowie der sozialen und gesellschaftlichen Einbettung individuell optimal entwickeln können. So entsteht Selbstwert und jene Sicherheit, die es erlaubt, sich offen und erforschend, erkundend mit dem Umfeld in Beziehung zu setzen und letztlich Verantwortung für sich, für andere und für die Umwelt zu übernehmen.

  • Welche Rolle spielt in der Evolution die Transzendenz?

Das spirituelle Gehirn des Menschen entstand evolutionär wahrscheinlich im Zusammenhang mit der komplexen/kooperativen sozialen Organisation und Sprachfähigkeit in den vergangenen 700000 Jahren. Mit der Sprache kam auch die Möglichkeit in die Welt, mentale Zeitreisen zu unternehmen und sozial zu teilen. Damit ergab sich auch die für Individuen und Ethnien [Menschengruppen mit einheitlicher Kultur] überlebenswichtige Notwendigkeit, sich mit den Dingen und Lebewesen der Welt in Beziehung zu setzen und mittels unseres „ratiomorphen [vernunftähnlichen] Apparates“ deren und die eigene Existenz zu erklären.

Menschen wurden bedürftig nach Sinn und Transzendenz, sie blieben es bis heute. Sehr wahrscheinlich, dass die typisch menschliche Suche und das Bedürfnis nach Transzendenz in ihren vielfältigen kulturellen Ausformungen als Religionen erheblichen Einfluss auf den Darwinschen Prozess der Menschwerdung und die Differenzierung menschlicher Populationen [die Gesamtheit der an einem Ort vorhandenen Individuen einer Art] nahm.

  • Ein Thema der Gegenwart ist der Umgang mit dem Fremden. Wie reagieren wir da richtig?

Auch die Grundzüge der Einstellungen zu Gruppenfremden liegt in der menschlichen Natur – sie sind daher hochgradig kontextspezifisch angelegt [evolutionäres Erbe bedeutet für das Sozialverhalten nicht dumpfe Determiniertheit, sondern erhebliche kontextspezifische Flexibilität].

Je nach individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen wird sich also das angelegte vorsichtige Interesse an Fremden in Gastfreundschaft, Skepsis oder offen aggressiver Fremdenfeindlichkeit äußern. Xenophobie [Fremdenfeindlichkeit] für sich ist daher keinesfalls eine menschliche allgemeingültige Aussage, wie noch von unseren verhaltensbiologischen Altvorderen angenommen, sondern eine von mehreren möglichen angelegten Ausformungen der Einstellung zu Fremden.

Dass angesichts unseres Lebens im globalen Dorf Xenophobie weder ethisch noch funktionell vertretbar ist, versteht sich von selbst.

  • Vermag der Mensch sich so am eigenen Schopf aus dem selbstverursachten Sumpf zu ziehen?

Das wird man sehen. Der menschentypische Optimismus will daran glauben, wird aber von meinem informierten Realismus immer wieder stark gedämpft. Wir müssen erkennen, dass die Lösung der weltweiten demokratiepolitischen Krise grundlegende Voraussetzung für die Lösung aller anderen Krisen ist, wonach es im Moment aber nicht aussieht.

Jedenfalls werden es weder die „starken Männer“, noch eine aufgrund fehlender politischer Randbedingungen immer mächtiger und politischer werdende Wirtschaft nicht für uns richten. Denn die haben definitiv andere Interessen als das Gemeinwohl.

  • Homo homini lupus: Ist der Mensch, wie das Sprichwort sagt, dem Menschen ein Wolf?

Persönlich mag ich diese Metapher nicht, weil sie das falsche Bild des Wolfes als rücksichtslos-aggressive Bestie befördert. Das ist aber so nicht richtig. Wölfe sind innerhalb ihrer Familienklans (die wir Rudel nennen) bei sehr flachen Hierarchien komplex kooperativ, sie töten aber zuweilen in Konkurrenz zwischen Rudeln fremde Wölfe.

Diese soziale Grundorientierung teilen sie zumindest mit ursprünglichen Menschen, darum leben wir ja auch heute mit Hunden. Differenziert betrachtet, kann also der Mensch dem Menschen durchaus ein Wolf sein, was aber nicht nur negativ zu sehen ist. Wie die Metapher allerdings gemeinhin verstanden wird, tut sie Wölfen unrecht.

  • Was bringt die Corona-Pandemie gegenwärtig verschärft zutage?

Sehr viel. Zum Beispiel einerseits das typisch menschliche Bedürfnis, Teil einer zusammenhaltenden (auch straff geführten) solidarischen Gruppe zu sein; andererseits zeigt sie aber auch das starke, auch im zwischenartlichen Vergleich feststellbare und mit kooperativer Orientierung verbundene Bedürfnis nach gerechter Behandlung.

So wurde der Lockdown erstaunlich gut akzeptiert und führte zu einem breitem gesellschaftlichen Zusammenstehen. Im Moment zerfällt diese Gleichheit rapide auch aufgrund der widersprüchlichen/unzusammenhängenden Maßnahmen der Regierenden. Das macht manchen Leuten mehr Angst als das Virus selber.

Andere wiederum finden das Wiederaufleben der demokratischen Auseinandersetzung befreiend und lehnen eher die neuen, aus Anlass von Covid erlassenen, autoritären Notstandsgesetze ab. Letztlich eine Manifestation des alten, schwer auflösbaren Widerstreits in Gesellschaft und Individuen zwischen der Geborgenheit in autoritären Strukturen und unbequemer Selbstverantwortung.

Literatur: Kurt Kotrschal, „Mensch. Woher wir kommen. Wer wir sind. Wohin wir gehen“, Brandstätter-Verlag. Kurt Kotrschal, „Ist die Menschheit noch zu retten? Gefahren und Chancen unserer Natur“, Residenz-Verlag

Autor:

Stefan Kronthaler aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG

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