20 Jahre 9/11
Der 11. September ist kein Tag wie jeder andere
Am 11. September 2001 entführen Selbstmordattentäter zivile Flugzeuge und steuern sie in das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington DC.
Unsere Redakteurin Andrea Harringer war an diesem Tag nur ein paar Kilometer Luftlinie vom World Trade Center entfernt. Heute 20 Jahre später erinnert sie sich, wie sie diesen Tag erlebt hat. Sie spricht mit P. Godehard Brüntrup, Jesuit, USA Experte und Professor für Metaphysik an der Hochschule für Philosophie München darüber, was von „9/11“ geblieben ist. Und es kommt Father Kevin Madigan zu Wort, der viele der Opfer seelsorglich erstversorgte.
Es gibt Ereignisse, da weiß irgendwie jeder, wo er gewesen ist, als „es“ passierte. Der 11. September 2001, der Tag der Terroranschläge in den USA, ist so ein Tag.
Ich weiß auch genau, wo ich an diesem Tag war: In New Jersey – nur wenige Kilometer Luftlinie von Manhattan entfernt – und mit direktem Blick auf die berühmte Skyline und damit auch die Twin Towers des World Trade Centers.
Die Sonne strahlt vom Himmel
Der 11. September war ein außergewöhnlich klarer, strahlend sonniger Tag. Am Abend davor waren mein Mann und ich in den USA angekommen und ein dreiwöchiger Urlaub an die verschiedensten Orte an der Ostküste lag vor uns. Doch bevor es so richtig losgehen sollte, wollten wir noch ein paar Tage bei meiner Tante und meinem Onkel verbringen, die in einem Appartement im 9. Stock eines Hochhauses am Ufer des Hudson River in New Jersey lebten.
Der Ausblick aus diesem Appartement war atemberaubend. Panoramafenster gaben einen einzigartigen Blick direkt auf die New Yorker Skyline frei. Ich erinnere mich noch genau, wie wir am Abend des 10. September mit großen Augen am Fenster standen und das erleuchtete Manhattan bestaunten – ein Foto davon zu machen, verschoben wir großzügig auf den nächsten Tag: Es war ja erst der erste Abend unseres Urlaubs.
Die Ereignisse nehmen ihren Lauf
Beim Frühstück am nächsten Tag berieten wir aufgekratzt und fröhlich, wie es sich für einen ersten Urlaubstag gehört, was wir machen wollten. Und die Entscheidung fiel uns nicht schwer: Manhattan sollte es werden. Unser Bus ging etwa um 8.30. Meine Tante begleitet uns und wollte uns das eine oder andere Fleckchen in New York zeigen, zu dem wir sonst vielleicht nicht gegangen wären. Doch es sollte anders kommen.
Als wir mit dem Bus, noch auf der „New-Jersey“-Seite des Hudson River entlang fuhren, sah ich aus dem Fenster und sah eine riesige Rauchwolke an einem der Türme. „Was ist das denn?“ sagte ich auf Englisch und ein Mitfahrender antwortete: „A plane crashed into it.“ – „Ein Flugzeug ist hineingeflogen.“ Ein Flugzeug? Ich wiederholte die Antwort staunend, aber noch nicht richtig erschrocken. Vor meinem geistigen Auge sah ich so etwas wie eine kleine Cessna oder vergleichbares. Bestimmt äußerte ich Bestürzung über das Schicksal der Insassen, aber mehr war es bestimmt in diesem Moment nicht.
Plötzlich aber hörten wir die Stimme des Busfahrers über den Lautsprecher, der uns mitteilte, dass er hier umdrehen werde, dass wir an der Haltestelle aussteigen sollten, an der wir eingestiegen sind und nach Hause gehen sollten. Das war dann doch einigermaßen seltsam. Doch wir taten, wie uns gesagt wurde – sahen ja auch keine Alternative. Mittlerweile muss es kurz nach 9.00 Uhr gewesen sein. Um 8.46 hatte American-Airlines-Flug 11 im Nordturm des World Trade Centers eingeschlagen.
Terroralarm in New York City
Zurück in der Wohnung meiner Verwandten, drehten wir sofort den Fernseher auf – in der Hoffnung so einen Hinweis darauf zu bekommen, was eigentlich los war. Und wir bekamen, wonach wir suchten: Über den Bildschirm flimmerte das Bild von mittlerweile zwei brennenden und rauchenden World Trade Center Türmen. Die Schlagzeile, die ich las und die irgendwie nicht und nicht in mein Bewusstsein sinken wollte, lautete: „New York City under terrorist alert“ – „Terroralarm in New York City“. Es dauerte nur wenige Augenblicke – und ich hatte, wie gesagt, noch gar nicht begriffen, was da gerade passierte – da änderte sich die Schlagzeile: „South Tower collapsed.“ Ich weiß noch, wie unwirklich ich das Wort „collapsed“ fand. So unwirklich, dass ich meine Tante fragte, was es bedeutet. Ihre Antwort: „Schau aus dem Fenster, dann weißt Du es.“ Ich drehte mich zum Fenster und verstand. Da unten, an der Südspitze Manhattans rauchte nur mehr ein Turm. Der zweite war weg. Einfach weg. Und es dauerte nur etwa 20 weitere Minuten – da sahen wir voller Entsetzen, wie auch der zweite Turm in sich zusammensackte.
Ich war darauf eingestellt zu sterben
Der Jahrestag der Terroranschläge bringt Jahr für Jahr eine Menge Erinnerungen wieder hoch. Gefühle von damals, die mich fest im Griff hatten. Dabei ist mir doch an diesem Tag eigentlich nichts passiert.
Hunderte, tausende andere können da ganz andere Geschichten erzählen. Wie etwa der heute 65-jährige Father Kevin Madigan. Er war im Beichstuhl von St. Peter, der ältesten katholischen Kirche New Yorks, als das erste Flugzeug im Nordturm einschlug. Ohne lange nachzudenken, schnappte er sich das Öl für die Sterbesakramente, um sie mit einem anderen Priester und Polizisten zu den Opfern zu bringen, die am Hudson River versorgt wurden. Als das schaurige Grollen den Einsturz des ersten Wolkenkratzers ankündigte, suchte er geistesgegenwärtig Schutz in einem U-Bahn-Schacht am Ende der E-Line. Er sah noch die oberen Etagen des Südturms einsacken, bevor er sich an die Wand presste. „Wir hatten Glück, weil der Eingang der Station weniger als zehn Meter entfernt lag“, beschreibt Father Madigan die dramatischen Momente. „Ich war darauf eingestellt zu sterben und betete, dass es schnell gehen möge.“ Doch er überlebte.
Eine Kirche wird zum Lazarett
Am Nachmittag des 11. September kehrte er nach St. Peter zurück. Am Fuße des Altars lag Father Mychal Judge aufgebahrt. Der Franziskaner war bei seinem Einsatz als Feuerwehrkaplan im Nordturm ums Leben gekommen – das offizielle „Opfer Nummer eins“. Aber bei weitem nicht der einzige Tote, den Einsatzkräfte nach St. Peter gebracht hatten. 34 weitere Leichen lagen auf dem Marmorboden der Kirche, während draußen unter den Säulen im Eingangsbereich Verletzte auf Hilfe warteten. „Die Kirche hatte sich sprichwörtlich in das Feldlazarett verwandelt, von dem Papst Franziskus einmal gesprochen hat“, beschreibt Father Madigan, wie seine Gemeinde binnen Stunden eine neue Bestimmung fand: Logistikzentrum für die Rettungshelfer, Leichenhalle und Sammelpunkt für die Verletzten.
So kannte man die USA nicht
Auch P. Godehard Brüntrup, Jesuit, USA-Experte und Professor für Metaphysik an der Hochschule für Philosophie München erinnert sich genau an den 11. September 2001. „Das Geschehen traf mich tief“, sagt er heute: „Nicht lange vorher hatte ich selbst noch auf einem der Zwillingstürme gestanden. Ich bin den Vereinigten Staaten und auch der Stadt New York sehr verbunden, denn ich habe viele Jahre dort an Universitäten gelehrt. Ich empfand es also auch als eine Attacke auf ein Land, das mir viel bedeutete.“ Wie viele in seiner Generation sei er mit einem positiven Bild der USA aufgewachsen. „Die Amerikaner waren für uns mehr als nur militärische Schutzmacht, wir orientierten uns an ihnen in der Politik, der Wissenschaft und auch der Kultur.“ Dass Amerika so hinterhältig angegriffen wurde und auch so verwundbar war, das war beides gleichermaßen schockierend.
Überhaupt hat der 11. September 2001 einiges in der Welt nachhaltig verändert. „Ich denke, dass mit diesem Datum der politische islamische Fundamentalismus sich endgültig als ein ,global Player‘ auf der Weltbühne etabliert hat“, sagt P. Brüntrup: „Die Amerikaner sprechen gerne von einem ,Krieg gegen den Terrorismus‘. Diese Wortwahl ist nach meiner Ansicht völkerrechtlich fragwürdig. Wir sollten eher von einem Kampf der Weltanschauungen und politischen Systeme sprechen. Die Terroristen sind selten isoliert, sie brauchen ein Milieu, das sie nährt und schützt. Sie werden getragen von politischen und religiösen Überzeugungen in signifikanten Teilen der Bevölkerung.“
Der lange Weg zu einer humaneren Gesellschaft
Aber was bleibt nun eigentlich von „9/ 11“, 20 Jahre danach? Was haben wir aus den dramatischen Ereignissen gelernt? „Die Angst vor dem Terrorismus hat im Westen zu einer Zunahme an Überwachung und Kontrolle geführt, nicht nur an den Flughäfen. Der Terror, der Schrecken, sitzt noch immer tief“, sagt P. Godehard Brüntrup: „Wir müssen darauf achten, dass wir uns nicht zu viel von ihm leiten lassen. Selbstverständlich, wenn ganze Staaten den Terrorismus propagieren, dann wird man nicht ohne militärische Drohung und Abschreckung auskommen können. Aber wir haben in den 20 Jahren seit 9/11 auch deutlich gesehen, dass dieser Konflikt der Ideen und Systeme nicht mit Waffengewalt gewonnen werden kann. Unser gemeinsames Erbe von christlich-jüdischen Werten und der befreienden Vernunft der Aufklärung wird letztlich dadurch verteidigt, dass es uns immer mehr gelingt eine gerechtere und humanere Gesellschaft aufzubauen.“
Autor:Andrea Harringer aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
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