Corona und die Sinnsuche
Auf der Suche nach dem Lebenssinn
Nach dem Sinn des Lebens fragen wir alle irgendwann mal. Doch diese Frage zum Beruf zu machen, ist ungewöhnlich. Tatjana Schnell ist Sinnforscherin. Im Sommergespräch erklärt sie, wie sich unsere Sinnsuche durch Corona verändert und ob sich religiöse Menschen mit der Krise leichter tun.
Das Buch „Psychologie des Lebenssinns“ erscheint derzeit in zweiter Auflage. Die Autorin Tatjana Schnell ist Psychologin und Professorin an der Universität Innsbruck mit Schwerpunkt empirische Sinnforschung. Schon als Jugendliche hatte sie sich dafür interessiert, was Menschen glauben und wie Überzeugungen und Handeln zusammenhängen. Noch im Studium stellte sie sich die Frage: „Warum sind unsere Kirchen so leer, und trotzdem scheint es keine weit verbreitete Sinnkrise zu geben?“ Deshalb begann sie zu forschen: „Was trägt die Menschen, wenn es nicht die Religion ist?“
- Sie forschen mittlerweile seit fast 20 Jahren nach dem Lebenssinn.
- Was ist Sinn überhaupt?
Tatjana Schnell: Sinn ist nichts, was irgendwo drin steckt, sondern Sinn ist etwas, das wir einer Sache zuschreiben. Als wichtige Erkenntnis hat isch herausgestellt: Sinn ist immer mehr! Mehr als das, was unmittelbar vor Augen ist. Wenn wir etwas als sinnvoll wahrnehmen, sehen wir immer einen Bedeutungsüberschuss. Wir sehen, worauf eine Handlung hinausläuft.
- Was ist dieser Bedeutungsüberschuss beispielsweise?
Rituale sind sinnvolles Handeln. Z.B. die Kommunion oder das Abendmahl in der Kirche. Wenn wir dabei eine Oblate oder ein Stück Brot essen, dann tun wir das nicht, weil wir unseren Hunger stillen wollen, sondern weil dieses Brot auf etwas anderes verweist. Dieser Verweis ist der Bedeutungsüberschuss. Nur wenn wir diesen wahrnehmen, ist das Ritual für uns sinnvoll. Genauso ist das mit vielen Dingen im Alltag: Ich tue etwas, weil ich ein Ziel verfolge. Ich verfolge ein Ziel, weil es in eine Richtung weist, die ich gerne in meinem Leben verfolgen möchte.
- Was konkret gibt unserem Leben Sinn?
Wenn wir ganz offen fragen, sagen die meisten Menschen auf der ganzen Welt zuerst: Familie und Freunde, soziale Beziehungen. Danach kommen die Arbeit oder die Natur. Diese Aussagen sind aber nicht sehr aussagekräftig. Wir haben daher in unseren Studien die sog. Leitermethode verwendet, die weitergräbt. In einem Interview haben wir einen jungen Mann gefragt, warum Familie für ihn so wichtig ist. Er hat gesagt, es seien die Familienfeiern. Wir haben weitergefragt, wofür stehen die Feiern? Er hat gesagt, sie würden viel lachen, es sei spannend und „wie in einem Wettkampf“. Für diesen Mann ist Familie eine Herausforderung; die Herausforderung ist für ihn die Sinnquelle. Für viele Menschen bedeutet Familie aber etwas ganz anderes, zum Beispiel Gemeinschaft oder das füreinander Dasein. Man sieht, wie subjektiv Sinnzuschreibungen sind.
- Was meinen wir, wenn wir sagen, unser Leben ist sinnvoll?
In der empirischen Sinnforschung haben sich vier Merkmale gezeigt: Bedeutsamkeit (Es ist nicht egal, was ich tue), Stimmigkeit (Was ich tue, entspricht dem, was mir wichtig ist; ich muss nicht anders handeln, als ich möchte), Orientierung (Ich weiß, in welche Richtung mein Leben gehen soll). Wir haben heute viele Möglichkeiten zu leben. Wenn ich meine Richtung kenne, kann ich zu vielen Dingen Nein sagen. Vierter Punkt ist die Zugehörigkeit (Ich habe einen Platz in dieser Welt). Das muss keine Gruppe sein, es kann auch das größere Ganze, z.B. die Natur sein. Erst wenn eines der vier Merkmale wackelt, fangen wir an zu fragen, was ist der Sinn meines Lebens.
- Welchen Einfluss hat „Corona“, das Wissen um die Gefahr und die neuen Regeln im Alltag auf unsere Sinnsuche?
Zunächst muss man sagen, dass diese Krise uns sehr unterschiedlich trifft. Manchen geht es ganz gut damit, für einige ist sie existenzbedrohend, wieder andere geraten dadurch in Ängste und psychische Probleme. Allgemein gültige Aussagen sind also schwer zu treffen. Wir wissen aber aus anderen Krisen, dass solche Zeiten uns ermöglichen, eine Neuorientierung zuzulassen. Darüber berichten Personen, die durch ein kritisches Ereignis dazu gebracht wurden, ihr Leben in Fragen zu stellen, zum Beispiel durch eine Krebserkrankung. Solche Menschen sagen immer wieder, es war schrecklich, aber ich bin froh, dass ich diese Zeit gehabt habe, weil sie mir erlaubt hat zu hinterfragen, ob ich da bin, wo ich sein will, und ob ich nicht anders leben will. Aber dafür braucht es ein persönliches Betroffensein sein. Die Tatsache, dass es eine Krise in der Welt gibt, heißt längst noch nicht, dass ich persönlich eine Krise habe. Von daher wird auch Corona nicht die Massen zu diesem Hinterfragen bringen.
- Sie haben sehr früh eine Studie zu Sinn-Erleben in Zeiten von COVID-19 gestartet. Gibt es schon Ergebnisse?
Wir können tatsächlich schon etwas dazu sagen. Es sind zeitversetzte Trends. Während der Wochen des Lockdowns können wir feststellen, dass die Menschen das gut ausgehalten haben. Ihr Sinnerleben war gut und die Sinnkrisen waren zum Teil deutlich niedriger als vor Corona. Das entspricht dem Bild, das die Medien gezeichnet haben: Jetzt kommt es auf uns an! Die Bedeutsamkeit des eigenen Handelns wird in Krisenzeiten deutlich. Eine Aufbruchsstimmung, die Idee, wir können anders leben, wir müssen gar nicht ständig konsumieren.
Wir haben dann die Daten nach dem Lockdown analysiert und sehen leider ganz andere Zahlen. Die Sinnerfüllung ist deutlich niedriger, die Sinnkrisen haben sich verdoppelt. Viel mehr Menschen als vor Corona berichten, dass sie unter psychischer Belastung leiden. Das waren Wochen, in denen nicht mehr so deutlich war, dass es auf uns ankommt. Der Ausstieg aus den Beschränkungen war relativ holprig, vieles war unklar.
- Während des Lockdowns ging es uns besser als jetzt?
Das klingt absurd, aber es ist tatsächlich so. Während des Lockdowns haben viele zurück gesteckt, um die Schwächeren zu schützen. Jetzt sagen viele: „Ich lass mich nicht länger in meiner Freiheit einschränken.“
Wir haben auch die Fähigkeit der Selbstkontrolle in der Studie erfasst. Wer das kann, ist deutlich besser durch die Situation gekommen. Aber für Selbstkontrolle braucht man gute Gründe. Und das ist eben zur Zeit schwieriger. Es wird immer mehr in Frage gestellt, ob etwa die Masken wirklich noch notwendig sind. In dieser Unsicherheit entscheiden sich viele für die eigenen Bedürfnisse.
- Tun sich religiöse Menschen mit der Coronakrise leichter?
Das habe ich ganz aktuell ausgewertet. Wenn eine hohe Belastung durch die Pandemie berichtet wurde, hatten religiöse Menschen eine ganz leicht bessere psychische Gesundheit. In weiteren Analysen zeigt sich aber, dass dieser Effekt nur bei Personen eintritt, deren Religiosität eine sinnstiftende Rolle im Leben spielt. Letztendlich geht es darum, ob Religiosität es schafft, Sinn zu vermitteln.
Wir haben auch die Spiritualität erhoben, weil viele Menschen sich als spirituell aber nicht religiös bezeichnen. Wir haben, wie schon in einigen anderen Studien, gesehen, dass Menschen, die sich nur als spirituell bezeichnen, eher schlechter mit der Situation umgehen konnten. Eine mögliche Interpretation ist: Religiosität knüpft an eine jahrhundertealte Tradition an („Ich gehöre dazu“). Spirituelle Menschen dagegen bezeichnen sich häufig als Suchende, sie haben eine größere Offenheit, das macht sie aber auch verletzlich, besonders in kritischen Zeiten.
Autor:Stefanie Jeller aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
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