Krisenjahr 1995
Als die Ära Schönborn begann
Das Jahr 1995, das Jahr der Affäre Groër, des Kirchenvolks-Begehrens, der Weichenstellungen des neuen Erzbischofs, hat die folgenden Jahrzehnte gesprägt. Eine missionarische Kirche, die aus der Tiefe des Glaubens lebt – sind wir ihr heute näher als damals?
Die Caritas wehrt sich gegen den Vorwurf, sie würde nur für Flüchtlinge da sein. Die Kirche fragt sich, ob ihr Beitrag gegen Rassismus ausreicht. Man sorgt sich um die Zukunft des Religionsunterrichts. Der Erzbischof von Wien sagt zum Thema wiederverheiratete Geschiedene, der Papst wolle, dass die Seelsorger „die verschiedenen Situationen gut unterscheiden“. In einer Art synodalen Wegs diskutiert man die heißen Eisen: Frauenpriesterweihe, den Abschied vom Zölibat und eine lebensnähere Sexualmoral in der Kirche. Wir sprechen vom Jahr 1995.
In diesem Jahr hat Papst Johannes Paul II. den seit 1991 amtierenden Weihbischof Christoph Schönborn zum Erzbischof von Wien ernannt. Ist seit damals alles beim alten geblieben? „In den wesentlichen innerkirchlichen Kontroversen: Ja“, meint dazu der Grazer Pastoraltheologe Rainer Bucher in einer Mail-Konversation mit dem SONNTAG: „An der halbherzigen Rezeption des II. Vatikanums und der problematischen rechtlichen Verfassung der Kirche hat sich nichts geändert.“
Drei Dinge seien kirchlich heute aber anders: „Wir haben einen Papst, der dem pastoralen Blick auf den Einzelfall noch mehr Bedeutung gibt. Die gewohnte pfarrliche Basisorganisation der Kirche ist nun auch für alle sichtbar nicht mehr haltbar. Und die Geduld der Frauen mit ihrer asymmetrischen Stellung in der Kirche geht zu Ende. Und das in einer gesellschaftlichen Situation, die lokal, und global deutlich konflikthafter ist als 1995.“ Buchers Fazit: „Da spitzt sich langsam aber sicher etwas zu.“
Herausforderung Kirchenvolks-Begehren
Konfliktfrei war das Jahr 1995 freilich auch nicht. Im März hatte das „profil“ eine Bombe platzen lassen und vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs berichtet, der sich gegen den amtierenden Erzbischof, Kardinal Hans-Hermann Groër richtete. Der Vatikan versuchte, die Situation zu entschärfen, indem er im April Weihbischof Schönborn zum künftigen Nachfolger und dann im September endgültig zum Erzbischof ernannte. Weil aber Kardinal Groër zu den Vorwürfen schwieg, der Staat wegen Verjährung kein Verfahren durchführen konnte und der Vatikan keines durchführen wollte, blieb die Wunde offen.
Damit erhielt auch der Protest kirchlicher Kreise, die seit langem Reformen einmahnten, neue Brisanz. Im Mai wurde das Kirchenvolks-Begehren vorgestellt, das unter anderem eine Beteiligung des Kirchenvolkes bei der Bischofswahl sowie Diakonat und Priesterweihe für Frauen forderte. Im Sommer ging es mit mehr als 500.000 Unterschriften zu Ende.
Dass die Bischöfe in ihrer Vollversammlung im November nur ankündigten, mit den Initiatoren „offene Gespräche“ zu suchen, hat viele enttäuscht. Der neue Erzbischof Christoph Schönborn richtete dazu ein Schreiben an die Leser der Wiener Kirchenzeitung, indem er erklärt: „Dass die Antworten der Bischöfe auf diese Sorgen in wichtigen Punkten anders lauten als die des Kirchenvolks-Begehrens, ist nicht eine Folge von Reformangst. Der Blick auf die Weltkirche zeigt uns andere Wege wirksamer Kirchenerneuerung, Aufbrüche aus der Tiefe des Glaubens und der engagierten Liebe, von denen wir lernen können...“
„Und was merken die Menschen davon?“
Damit klingt schon 1995 ein Leitmotiv Erzbischof Schönborns an, die Hinführung zu einem Christentum der missionarischen Jüngerschaft, auch wenn man das seinerzeit noch nicht so genannt hat. Bundesgenossen ortete der Erzbischof besonders unter den damals schon boomenden neuen geistlichen Bewegungen.
Opus Dei, Gemeinschaft Emmanuel oder das Neokatechumenat waren 1995 schon in Wien vertreten, auch gab es schon Loretto-Gebetskreise. Neu dazu kamen in diesem Jahr etwa die Johannesbrüder in Marchegg. Weitere folgen. Und die Bischofskonferenz machte Schönborn zu ihrem Referenten für die Bewegungen.
Die ab 2003 durchgeführte Stadtmission kündigt sich da an, die stark aus den Erfahrungen der „Movimenti“ heraus agiert, aber eine Infusion des missionarischen Schwungs in die Pfarren und die Führung der Erzdiözese zum Ziel hat.
Aus der Stadtmission wiederum kommen wesentliche Impulse für die Diözesanversammlungen, bei denen ab 2009 die Begriffe Mission, Jüngerschaft und Strukturreform ins Zentrum rücken und aus denen heraus der diözesane Entwicklungsprozess Gestalt gewinnt. Bei der Eröffnungsansprache zur 1. Diözesanversammlung erzählt Kardinal Schönborn von seiner ersten Erfahrung einer Pfarrvisitation. In einer Pfarre im 5. Wiener Gemeindebezirk sagte der Pfarrer im Vorgespräch: „Es wird eine schöne Messe geben, Begegnung mit Pfarrmitgliedern, mit dem Pfarrgemeinderat.“ Und dann, so Schönborn, zeigte der Pfarrer „mit der Hand auf die riesigen Gemeindebauten rundum und fragte: ,Und was werden die vielen Menschen, die da wohnen, von dieser Visitation merken?‘ Die Frage geht mir seither nicht aus dem Sinn.“
Das Bild der Gemeinde entsteht, die nicht dem Pfarrer beim Missionieren hilft, sondern sich selber als „in die Welt gesendet“ erkennt – wobei ihr der Pfarrer zu helfen hat. Hat seit damals dieses Bild an Zustimmung gewonnen, nicht nur in Wien, sondern in Österreich generell? Pastoraltheologe Bucher ist skeptisch: Mission bedeute, „aus sich herauszugehen, indem man die Botschaft des Christentums dem anderen aussetzt, der keineswegs ein gottloses unbeschriebenes Blatt ist, sondern einer, dessen Heil Gott will wie das unsrige. Das ist ein wirklich weiterführendes Konzept. Ob es in der österreichischen Kirche realiter eine große Rolle spielt? Wenn, dann gäbe es viel mehr neue, experimentelle Orte von Kirche.“
Die relevante Kirche und ihr Krisenmanager
Solche Orte gäbe es dort, so Bucher, wo man sich bewusst werde, dass Kirche weder selbstverständlich noch von den meisten Menschen überhaupt als notwendig empfunden wird, „und man daraus die Konsequenzen gezogen hat. Das kann in ganz neuen Konzepten sein, wie etwa der Citypastoral, aber auch in recht alten, wie etwa einer Fronleichnamsprozession, die man nicht mehr länger als Heerschau des ständisch geordneten Katholizismus inszeniert, sondern von den Orten her, zu denen man geht, etwa den sozialen Brennpunkten einer Stadt. Denn dann muss man sich fragen: Was haben wir hier zu suchen, zu finden und zu sagen? So entsteht Relevanz.“
Relevanz hat Kirche trotz der durch die Missbrauchsfälle dramatisch verstärkten Vertrauenskrise auch abseits des Spirituellen: im Gesundheitswesen, vor allem durch die Ordensspitäler, sowie in der Sozialhilfe und im Bildungswesen. Das Jahr 1995 war auch der Amtsbeginn von Christine Mann als Schulamtsleiterin (bis 2015) und von Michael Landau als Direktor der Caritas der Erzdiözese Wien (dessen Vorgänger Helmut Schüller Generalvikar wird).
So konnten die Schulen der Erzdiözese Wien eine steigende Nachfrage verzeichnen. Sie unterrichten heute 29.400 Schüler, um gut 3400 mehr als damals. Nur 17 Prozent der katholischen Schüler haben sich vom Religionsunterricht abgemeldet. Deutlich mehr nichtkatholische Schüler besuchen freiwillig den katholischen Religionsunterricht. Und zum Erfolg der in diesen Jahren stark gewachsenen Caritas-Organisation vielleicht nur ein Parameter: Heute hat die Caritas der Erzdiözese Wien mit der Pfarrcaritas zusammen rund 50.000 freiwillige Helfer. Vor zehn Jahren waren es erst 36.000.
Das Jahr 1995 war kein einfaches Jahr. Es war das Jahr des Massakers von Srebrenica, 500 Kilometer Luftlinie von Wien. Das Jahr, in dem Franz Fuchs mit einer Rohrbombe vier Österreicher aus Roma-Familien in Oberwart ermordete. Und das Jahr, in dem in Manila der Papst mit vier Millionen Menschen eine Messe feiert, die bis dahin größte Versammlung in der Geschichte, während im alten Europa der neue Erzbischof von Wien mit dem Skandal um seinen Vorgänger und den Forderungen eines Kirchenvolks-Begehrens konfrontiert ist.
War Erzbischof Schönborn damals der Krisenmanager, wie eine ORF-Reportage ihn betitelte? „Nein. Schon allein deshalb, weil ich mich nicht als Manager sehe, sondern als Bischof“, sagt der Kardinal zum SONNTAG. „Und in allen Krisen habe ich die Erfahrung gemacht, dass zum rechten Zeitpunkt die richtigen Menschen da waren, die richtigen Ratschläge gekommen sind. Ich würde sagen, dass es nur gemeinsam gegangen ist.“ Immerhin war eine Frucht der Erfahrungen aus der Affäre Groër, dass Österreich im Missbrauchs-Skandaljahr 2010 besser vorbereitet war als viele, schon Ombudsstellen hatte, diözesane Kommissionen und ein Grundverständnis für die Nöte der Opfer.
Zu Weihnachten im Krisenjahr 1995 schreibt der neue Erzbischof im SONNTAG: „In diesem Kalenderjahr ist viel von Ansprüchen, Wünschen, Forderungen, ,Begehren‘ an die Kirche die Rede gewesen, und wenn wir die Kirche als unsere Mutter betrachten dürfen (und nicht nur als anonyme Institution), dann ist es durchaus verständlich, wenn wir mit unseren Wünschen zu ihr kommen.“ Nicht darüber wolle er schreiben, „sondern über das, was die Kirche uns und wir der Kirche auf den Gabentisch legen können.“
Und das große Geschenk der Kirche sei der Glaube. „Hier, in der Lebensgemeinschaft der Kirche, finde ich das Wort Gottes, die Sakramente Jesu Christi, die Vergebung meiner Sünden und die Versöhnung, das Vorbild und die Hilfe der Heiligen, die gegenseitige Stütze auf dem Pilgerweg des Glaubens.“ Und so bittet er, „dass wir unter den Geschenken, die wir erhalten, diese wertvollste Gabe nicht übersehen und dass wir für sie danken.“
Autor:Michael Prüller aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
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