Neurowissenschaftliche Sicht auf den freien Willen
Was Sterbende wirklich brauchen
In Österreich beschäftigt sich der Verfassungsgerichtshof mit zwei stark diskutierten Fragen: „Sterben auf Verlangen“ und „Assistierter Suizid“. Doch was steckt hinter diesem „Verlangen“? Warum wollen Menschen „nur mehr“ sterben?
Der Arzt und Neurowissenschaftler Joachim Bauer klärt auf: über den freien Willen, die Todessehnsüchte und was den Sterbenden wirklich hilft.
Die laufende Debatte über die Sterbehilfe bringt ein Thema in die Diskussion ein, das seit Jahrzehnten von den westlichen Gesellschaften verdrängt wird: das Sterben, der Tod. Dieser hundertprozentigen Gewissheit, einmal sterben zu müssen, wird gerne ausgewichen. In früheren Zeiten sprach man sogar von der „Kunst des Sterbens“.
Für den Arzt, Neurowissenschaftler, Psychotherapeuten und Autor viel beachteter Sachbücher Joachim Bauer ist das Sterben eine sichere Sache. „Beim Sterben gibt es nun mal keine Probeaufführungen. Daher kann man es auch nicht lernen“, sagt Bauer im Gespräch mit dem SONNTAG: „Man kann aber zwei Dinge tun, die ich für hilfreich halte.
- Das eine ist: Man kann sich an Menschen orientieren, die versöhnlich gestorben sind.
- Das andere ist: Jeder und jede sollte sich frühzeitig mit der schmerzlichen Tatsache befreunden, dass wir sterben müssen.“
Bauers Schlussfolgerung: „Die Art und Weise, wie ein jeder und eine jede von uns aus dem Leben scheidet, ist immer ein ganz persönlicher Weg. Sterben ist sozusagen die letzte kreative Sequenz des Lebens.“
- Gibt es, haben wir überhaupt einen freien Willen?
JOACHIM BAUER: Unser Leben ist in biologische und soziale Gegebenheiten eingebettet. Daher ist die dem Menschen gegebene Freiheit immer eine relative, keine absolute. Wir Menschen können uns nicht selbst neu erfinden. Die Freiheit des Menschen spielt sich innerhalb eines Rahmens ab, der einerseits durch unsere Biologie und andrerseits durch die sozialen Erfahrungen gebildet wird, die wir durchlaufen haben. Auch Unfälle oder Krankheiten haben auf diesen Rahmen Einfluss. Innerhalb dieses Rahmens hat der Mensch allerdings sehr wohl eine – wenn auch begrenzte – Entscheidungsfreiheit.
- Ist der freie Wille ein Wunschdenken oder Realität?
Ist nur das Realität, was sich materiell manifestiert und sich physikalisch messen lässt? Ist „Wunschdenken“, sind Wünsche, ist das Denken an sich keine Realität? Ist das, was die Melodien Mozarts von denen Schuberts – jenseits der Produktion von Schallwellen – unterscheidet, keine Realität? Auch der reine Sinngehalt von Worten – jenseits der Produktion von Schallwellen – ist Realität, denn Informationen sind, obwohl apparativ nicht messbar, in der Lage, das Gehirn eines Menschen materiell zu verändern. Was Lebewesen von toter Materie unterscheidet, ist ihr subjektives Erleben, ihr Denken, Fühlen und Wollen. Der menschliche Wille ist also Realität.
- Wie „frei“ ist ein Schwerstkranker, der Todessehnsucht verspürt?
Der menschliche Lebenswille ist – auch aus neurobiologischer Sicht – kein Selbstzweck. Er setzt voraus, dass Menschen zwischenmenschliche Verbundenheit erfahren können. Die Frage, die wir uns stellen sollten, wenn ein Mensch nicht mehr leben will, lautet daher: Erhält der lebensmüde Mensch ein hinreichendes Maß an zwischenmenschlicher Zuwendung?
Etwas anders gelagert ist der Fall, wenn der Lebenswille infrage gestellt ist, weil unerträgliche Schmerzen aufgrund einer unheilbaren Krankheit vorliegen. Dann sollten der behandelnde Arzt, eine Bezugsperson und der bzw. die Kranke die Situation miteinander besprechen. Wenn die kranke Person gläubig ist, sollte man auch eine/n Seelsorger/in hinzuziehen. Notlagen dieser Art bedürfen einer Einzelfallentscheidung und eignen sich nicht für öffentliche Debatten.
- Was sagen Sie Menschen, die Ihnen erzählen, dass sie nicht mehr leben wollen?
Wer einem lebensmüden Menschen begegnet, sollte ihm zunächst einmal nicht etwas sagen oder ihn belehren wollen, sondern ihm zuhören. Menschen, die nicht mehr leben wollen, sind in den meisten Fällen in ihrem Denken und damit in ihrer inneren Freiheit sehr eingeengt. Meistens berichten sie von quälenden Gefühlen, unverzeihlich versagt zu haben, wertlos zu sein oder anderen nur noch zur Last zu fallen. Manche berichten auch von einer furchtbaren inneren Leere.
- Worauf sind die Suizidwünsche bei Sterbenden zurückzuführen? Wegen großer Schmerzen oder wegen der Situation der Verlassenheit?
Das ist sehr unterschiedlich, beides ist möglich. Dies gilt es, von einem lebensmüden Menschen im Gespräch zu erfahren. Die meisten Menschen mit Suizidwünschen sind mir als Patienten begegnet, die an einer Depression litten. Depressive Erkrankungen haben zwar immer einen – manchmal lange zurückliegenden – biografischen Hintergrund. Ab einem gewissen Punkt kann eine Depression aber eine krankhafte Eigendynamik entwickeln, in der sich das Geschehen der Steuerbarkeit durch Gespräche entzieht. Wenn Angehörige das bemerken, muss unbedingt fachpsychiatrische Hilfe hinzugezogen werden.
- Was brauchen die Sterbenden in den Momenten dieser großen Schwäche?
Sie brauchen das einfühlende, empathische Da-Sein eines anderen Menschen und Ermutigung.
- Wie schätzen Sie gesetzliche Vorhaben zur aktiven Sterbehilfe ein?
Ich schließe die ethische Vertretbarkeit einer Sterbehilfe bei besonders gelagerten Fällen – wie bei unerträglich gewordenen unheilbaren Erkrankungen – nicht völlig aus. Das muss m. E. aber immer einer Abwägung im Einzelfall vorbehalten bleiben.
Mit Blick auf die Gesetzgebung zur Sterbehilfe macht mir ein Punkt erhebliche Sorgen: Die gesetzliche Freigabe der aktiven Sterbehilfe, insbesondere der kommerziellen Sterbehilfe, kann – und wird – ein Klima entstehen lassen, in dem ältere oder schwer kranke Menschen unter einen impliziten, unausgesprochenen Rechtfertigungsdruck geraten, wenn sie eine Sterbehilfe nicht wünschen oder ihr nicht zustimmen. In den Niederlanden wurde kürzlich sogar eine Patientin gegen ihren aktuellen Willen einer „Sterbehilfe“ unterzogen, also getötet.
- Warum ist die Hospizbewegung die menschenwürdige Antwort und nicht die Euthanasiebewegung?
Die Hospizbewegung ist ein Angebot, ein absehbares und – nach menschlichem Ermessen – unabwendbares Sterben zu begleiten. Euthanasie dagegen bedeutet, das Sterben aktiv herbeizuführen, weil entweder der betroffene Mensch oder sein soziales Umfeld der Meinung sind, das Leben des betroffenen Menschen sei so nicht mehr lebenswert.
- Besteht nicht das Dilemma auch darin, dass heutzutage die Menschen in Kliniken sterben (müssen), die eigentlich keine Sterbehäuser, sondern für das Heilen da sind?
Ja, das liegt aber nun einmal in der Natur des Auftrages, den eine Klinik hat. Niemand will in eine Klinik, die sich als Motto gesetzt hat: „Bei uns wird gestorben“. Daher war es so wichtig, dass die Hospizbewegung entstanden ist, und dass sich die Medizin um den Bereich der Palliativmedizin erweitert hat.
Autor:Stefan Kronthaler aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
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