Mit Einschränken leben lernen
Freiheit um jeden Preis?
Freiheit ist ein kostbares Gut. Wer das noch nicht wusste, dem wurde das im vergangenen Jahr in besonderer Art und Weise bewusst. Und auch wenn alle Einschränkungen der Freiheit derzeit aus einem bestimmten Grund passieren, ist die Situation nicht immer leicht auszuhalten.
Was macht das Einschränken der Freiheit eigentlich mit der Psyche eines Menschen? Warum ist es trotzdem in manchen Situationen wichtig, dass eine Gesellschaft mit der einen oder anderen Einschränkung lebt? Und wo endet unsere Freiheit?
ist Psychotherapeutin, Wirtschaftscoach und Mediatorin.
Ein Gespräch mit Brigitte Ettl, Psychotherapeutin und Coach.
Seien wir ehrlich: Auch wenn die Hoffnung auf ein baldiges Ende oder wenigstens eine Entschärfung der Corona-Krise groß ist – derzeit hat sie uns immer noch mit all ihren Begleiterscheinungen fest im Griff.
Mit so wenig Freiheit und so vielen Einschränkungen wie in den vergangenen Monaten waren die meisten von uns in ihrem ganzen Leben noch nie konfrontiert: eingeschränkt die Sozialkontakte, eingeschränkt die Möglichkeiten des Reisens, eingeschränkt die Möglichkeiten des Konsums, selbst des Arbeitens.
All das nagt an unseren Nerven und bringt uns an unsere Grenzen – schneller und öfter als es uns wohl lieb ist. Denn es ist nun mal so: Wir mögen unsere Freiheiten und wir sind auch sehr an sie gewöhnt.
„Freiheit bedeutet, sich im Alltag für einen von mehreren Wegen entscheiden zu können. Freiheit hat immer ein Ziel, eine Zielrichtung“, sagt dazu Brigitte Ettl, Psychotherapeutin und Coach: „Wird nun meine Freiheit, die Erreichung dieses Ziel durch eine höhere Gewalt, wie es derzeit die Pandemie darstellt, eingeschränkt, verliere ich genau diese Wahlmöglichkeiten. In einigen Bereichen lande ich zumindest vorübergehend vielleicht aber auch überhaupt in einer Sackgasse.“
Plötzlich bin ich gezwungen, einen Weg zu finden, mit diesen Einschränkungen zu leben und mich nach Alternativen umzusehen. Eine Einschränkung ist damit ein Verlust von Lebensmöglichkeiten. „Und dadurch
entsteht in logischer Konsequenz Traurigkeit und Enttäuschung. Wenn ich dann vielleicht auch noch sehr viel ,auf eine Karte gesetzt habe‘ oder wenn es sich um einen Plan in einem zentralen Lebensbereich handelt, zum Beispiel ein Studium im Ausland, dann wird es wirklich schwierig.“
Freiheit hat Grenzen
Freiheit bedeutet also immer und überall völlig grenzenlose Möglichkeiten vorzufinden? „So einfach nicht, nein“, sagt Brigitte Ettl: „Meine Freiheit endet natürlich dort, wo die meines Nächsten beginnt.“ Das klingt im ersten Moment einfach. Ist aber in der Praxis oft sehr schwer. Krisen wie die derzeitige würden das einmal mehr zeigen. Da stehen derzeit vereinfacht gesagt jene, die eher bereit sind sich in ihrer Freiheit einzuschränken, weil sie die Maßnahmen als sinnvoll erleben jenen gegenüber, die auf ihre Freiheiten in den verschiedensten Bereichen des Lebens pochen. „Gerade die aktuelle Krise verändert täglich ihr Gesicht“, so Brigitte Ettl.
Je nach charakterlicher Disposition ist man mehr auf der Seite der Vorsichtigeren oder der Wagemutigeren. „Es ist die Aufgabe der Demokratie, des politischen Systems, dieses Wechselspiel der Kräfte zu lenken. Denn im Grunde braucht es in einer Gesellschaft natürlich beide Seiten“, sagt Brigitte Ettl.
Damit einhergehen muss aber immer auch ein großes Maß an Toleranz auf beiden Seiten – das Bewusstsein, dass beide Seiten ihre Daseinsberechtigung haben. „Fanatismus einer Seite, der sich etwa auch in den derzeit immer wieder auftauchenden Verschwörungstheorien zeigt, verliert wertvolle Aspekte der jeweils anderen Positionen aus den Augen.“
Natürlich sei in „normalen Zeiten“, in denen das Leben ohne große Krisen verläuft, der Spielraum für jeden Einzelnen und für gesellschaftliche Gruppen größer. „Jetzt ist der ,Freiheitskuchen‘ deutlich kleiner geworden und damit beginnt es sich automatisch an den Grenzen zu reiben.“
Lebenserfahrung – aber auch Geduld und Optimismus
In ihrer Praxis merke sie, dass sich viele der älteren Klientinnen und Klienten mit den vielen Einschränkungen ihrer Freiheit leichter tun als jüngere Menschen. Auch wenn natürlich viele hochbetagte Menschen in Heimen die Pandemie als besondere Herausforderung erleben und Zurecht das Gefühl haben, dass ihnen kostbare Lebensmöglichkeiten, Begegnungen mit ihren Angehörigen, genommen werden – im Moment noch auf unbestimmte Zeit. „Ich denke trotzdem, dass man sagen kann, dass viele Ältere hier enorm von ihrer Lebenserfahrung profitieren.
Im Laufe eines Lebens macht man ja immer wieder die Erfahrung, dass Pläne durchkreuzt werden. Das ist oft im ersten Moment irritierend. Doch immer wieder stellt sich die eine oder andere Erfahrung dann im Rückblick auch als ,Lerngeschenk‘ heraus“, sagt Brigitte Ettl: „So kann ein plötzliches Stoppschild durchaus zu einem sinnvollen Innehalten führen. Ich bin gezwungen, meinen bisherigen Weg zu überdenken – und finde vielleicht dadurch sogar eine bessere Alternative.“ Diese Erfahrungen machen bei neuerlich auftretenden „Stoppschildern“ gelassener.
„Junge Menschen haben diesen Schatz noch nicht in vollem Ausmaß – sie haben jetzt das Gefühl, dass ihnen genau diese Möglichkeiten zum Erfahrung-Sammeln genommen werden und es ist natürlich nicht leicht das einfach zu akzeptieren.“
Neben dem Alter gebe es aber natürlich auch charakterliche Dispositionen, wie zum Beispiel Geduld und Optimismus, die manchen helfen, die Zeit der Enge gut zu bewältigen. „Die gute Nachricht: An diesen Einstellungen kann ich arbeiten. Ich kann versuchen, mir geduldige Menschen als Vorbilder zu nehmen, ich kann täglich überlegen, was heute Gutes in meinem Leben passiert ist – und diese Übungen verändern langsam aber doch die persönliche Stimmung und Stellungnahme zu den Herausforderungen.“
Es ist nicht alles schlecht
All jenen, die derzeit besonders mit dem Gefühl kämpfen viel versäumt zu haben und nicht mehr alles nachholen zu können, rät Brigitte Ettl es mit einem dankbaren Blick auf schöne Erinnerungen aus der Zeit vor der Pandemie zu versuchen. „So gut das eben geht.“ Aber auch mit Achtsamkeit auf kleine Lichtblicke, die auch jetzt immer wieder durchleuchten – das gemütliche Telefonat mit einer Freundin, Lesezeit für einen wirklich großen Roman oder die ersten Frühlingsblumen. „Auch wenn das nicht immer leicht ist – letztendlich bringt uns die Haltung ,was hat mir das Leben zu bieten‘ nicht wirklich weiter“, sagt Brigitte Ettl: „Vielmehr ist es unsere Aufgabe, immer wieder Antworten auf die Fragen zu finden, die uns das Leben stellt.“
Das Ende der Selbstverständlichkeiten
Für die Zeit nach der Pandemie, wenn wir wieder alle unsere gewohnten Freiheiten haben, hofft Brigitte Ettl, dass zügig alles wieder „normal“ wird. „Wie rasch der Schalter wieder umgelegt wird, hängt aber sicherlich maßgeblich von der individuellen Betroffenheit und den Auswirkungen der Krise ab.“
Menschen die gesund geblieben sind, keinen nahestehenden Menschen verloren haben und auch keine wirtschaftlichen Einbußen erlitten haben, werden den Schalter wohl rascher umlegen und wieder zu alten Gewohnheiten zurückkehren können. „Doch vielleicht kommt es auch da zu einem Umdenken in manchen Bereichen, auch im Hinblick auf die Verantwortung für Umwelt und künftige Generationen. Beispielsweise zu weniger vermeidbaren Flugreisen, zu einem nachhaltigen Umgang mit Lebensmitteln“, so Brigitte Ettl: „Die Zurückhaltung bei menschlicher Nähe wird hoffentlich rasch verschwinden, sobald sie nicht mehr gefährdend ist.
Wir freuen uns auf Umarmungen, auf gemeinsames Lachen und Tanzen. Doch wir werden es mehr schätzen – es wird wahrscheinlich lange kostbar bleiben, weil es durch die Krise die Selbstverständlichkeit verloren hat.“
Autor:Andrea Harringer aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG |
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