Doris Moser im Gespräch mit Christine Weeber
Christine Lavant-Expertin über die Kärntner Literatin

Die Christine Lavant-Expertin Doris Moser, Germanistin an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, im Gespräch mit dem „Sonntag“ über die Größe dieser Kärntner Literatin, ihren bescheidenen Lebenswandel, ihre Gottesvorstellung und ihre tiefe Freundschaft zum Künstler Werner Berg.

„Es ist so weit bis zum Herzen Gottes“, schreibt Christine Lavant in einem ihrer Gedichte. Sie starb am 7. Juni 1973, also vor 50 Jahren. Was ist in der Retrospektive von dieser Kärntner Schriftstellerin in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts geblieben? Ist sie nicht ein Stück weit auch eine verkannte Literatin?
MOSER: Wer zwei Mal als einzige mit dem Georg-Trakl-Preis ausgezeichnet wurde und mit dem Großen Österreichischen Staatspreis, kann keine verkannte Literatin sein. Christine Lavants Gedichte sind in Anthologien und Schulbüchern abgedruckt, über ihr Leben und Wirken ist in diversen Literaturgeschichten zu lesen. Die Lavant gehört heute zum Kanon der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Geblieben ist ein singuläres Werk, das nicht in Vergessenheit geraten wird.

Gilt Christine Lavant, geborene Thonhauser, wegen ihres bescheidenen und einfachen Lebenswandels in der Kärntner Provinz als Außenseiterin in der österreichischen Literaturgeschichte?
MOSER: Die Lebensumstände mögen zu diesem Bild der Außenseiterin beigetragen haben, entscheidend waren sie dafür wohl nicht. Lavant gehörte künstlerisch nirgends dazu, nicht zu den Poeten der Innerlichkeit, nicht zu den Experimentellen, nicht zum Spätexpressionismus, nicht zur Wiener Gruppe. Ihre Lyrik lässt sich nirgends eindeutig zuordnen, sie ist singulär. Mit dem Sprachspielerischen, der Freude an den Formen und Rhythmen gehört sie ganz in die österreichische Tradition. Die Prosa ist etwas leichter zu verorten.

Was ist das Besondere an ihrer Prosa, wie etwa die Erzählung „Das Wechselbälgchen“, worin Christine Lavant schonungslos die Niederungen des menschlichen Daseins beschreibt?
MOSER: In ihren Erzählungen wirft sie einen genauen Blick auf Menschen und ihre sozialen Umstände, sie verarbeitet literarisch, was sie hörte und sah und verschränkt es mit Stoffen aus der Volksüberlieferung, der Zeit- und Sozialgeschichte und ihrer Biografie. In literarischen Traditionen gedacht kann man Christine Lavants Erzählungen als Gegenstücke zu Rosegger und Waggerl lesen. Zugleich sehe ich sie als Vorläuferin der radikalen Dekonstruktion des Ländlichen durch Josef Winkler oder Franz Innerhofer, also der kritischen Heimatliteratur der 1970er- und frühen 1980er Jahre.

Wo liegen Freiheit und Wahrheit in ihrem umfangreichen Werk?
MOSER: Ich will versuchen, dies am Beispiel der Lyrik zu zeigen. Lavants Lyrik ist sinnlich in der umfassenden Bedeutung des Begriffes: Sie hat aus Anschauung und Empfindung, ihrem eigenen Leben, Lieben, Leiden geschöpft – das wäre die Wahrheit im Sinne einer wahren Empfindung. Die Freiheit liegt in der Sprache, die keine Grenzen kennt, im Erfinden neuer Wörter, Sprachbilder, eines eigenen Sounds – kurzum, es ist eine Freiheit, die auch mit Befreiung zu tun hat. Zitat: „Solange ich schreibe, bin ich glücklich, wenn es auch oft mit solchen Schwierigkeiten verbunden ist, von denen sich Wenige eine Vorstellung machen können. (…) Aber das Schreiben ist halt das Einzige, was ich habe. Es ist meine schmerzhafte Stelle und zugleich die heilende Salbe.“

Welches Werk Christine Lavants ist für die Nachwelt von größter Bedeutung? Ist es die Erzählung „Das Kind“ und ihre tiefsinnige Lyrik?
MOSER: Die Bedeutung wie auch die Bedeutsamkeit, die die Nachwelt einem Werk zuschreibt, ändern sich mit der Nachwelt. Lange Zeit ist Christine Lavant vor allem als Dichterin wahrgenommen worden, nicht als Prosaschriftstellerin. Das hat sich inzwischen geändert, gerade ihre Erzählungen finden heute eine große Leserschaft. Sie sind vielleicht auch zugänglicher als die mitunter rätselhafte Lyrik. Auf Gedichte muss man sich ganz einlassen, bisweilen muten sie einem viel zu, sie verlangen Ruhe und Kontemplation. Das ist in krisenhaften Zeiten schwierig, würde sich aber besonders lohnen.

Bekanntlich hat Religiosität in ihrem Werk einen sehr hohen Stellenwert. Christine Lavant war streng gläubig. Wie sieht ihr Gottesbegriff aus?
MOSER: Christine Lavants Gottesvorstellung changiert zwischen dem strafenden oder erlösenden Gott-Vater des katholischen Volksglaubens und einem mystischen Schöpfergott als das All-Eine, nicht theistisch, sondern pantheistisch gedacht, ja erlebt. Sie beschäftigte sich mit christlicher, buddhistischer, jüdischer und islamischer Mystik. Die Zeitgenossen sahen Lavant nur als religiöse Zweiflerin, die sich auch mit ihren „Lästergebeten“ noch innerhalb des christlichen Kosmos bewegt. Die Mehrdeutigkeit gerade in diesen Gedichten übersah man geflissentlich. Eine tiefgläubige Katholikin war Lavant wohl eher nicht, an der Amtskirche übte sie Kritik, wie zum Beispiel in der Erzählung „Nell“.

Wie klassifizieren Sie ihre Freundschaft mit dem renommierten Künstler Werner Berg?
MOSER: Den Maler und die Dichterin verbanden eine tiefe Freundschaft, ein Gleichklang auf künstlerischer Ebene und zugleich eine bis an die Grenzen der Belastbarkeit gehende Liebesbeziehung. Werner Berg fand mit den Porträts der Lavant aus einer Schaffenskrise. Christine Lavant schrieb zu der Zeit den Großteil ihrer Gedichte. Werner Berg war wohl einer der wenigen Menschen, mit denen sie über ihr Schreiben reden konnte, reden wollte. Zwei Jahre nach Ende der Beziehung zu Berg fiel der Lavant das Dichten zunehmend schwerer, das „unbedingte Muss“, wie sie es nannte, schien verloren zu sein.

Die deutsche Lyrikerin Kerstin Hensel schreibt in „Kreuzzertretung“: „Christine Lavant besaß keinen Jüngerkreis wie etwa Ingeborg Bachmann.“
MOSER: Christine Lavant war in den literarischen Zirkeln ihrer Zeit bekannt, aber nicht verankert, dazu fehlten ihr gute Gesundheit und Geld. Der Lampersbergsche Tonhof in Maria Saal, wo sich die österreichische Avantgarde der Musik, Kunst und Literatur zur Sommerfrische traf, wurde für Lavant Zufluchts- und Begegnungsort. Mit Gerhard und Maja Lampersberg verband sie eine innige Freundschaft. Unter den Freunden galt sie als humorvolle Person, die mit Witz und Schlagfertigkeit eine Tischrunde aufs Beste zu unterhalten verstand. Statt literarische Zirkel zu begründen, schrieb sie Briefe.

Thomas Bernhard schreibt über die 1973 gestorbene Dichterin, sie „sei in der Welt noch nicht so, wie sie es verdient, bekannt“.
MOSER: Das war zu der Zeit, als er es gesagt hat (1987), jedenfalls wahr. Bernhard hat damals für den Suhrkamp Verlag eine Anthologie der für ihn schönsten Gedichte der Lavant zusammengestellt, um sie außerhalb Österreichs bekannt zu machen. Die Aufarbeitung des Nachlasses und die vierbändige Werkausgabe im Wallstein Verlag haben wieder neues Interesse geweckt. Inzwischen gibt es fast so etwas wie eine Lavant-Renaissance. Im Herbst erscheint eine Anthologie von Lavant-Gedichten, die Maja Haderlap zusammengestellt hat. Und ein Band mit Fotografien und Briefen erscheint auch noch heuer.

ZUR PERSON:
Doris Moser, geb. 1965 in Klagenfurt, Studium der Anglistik/Amerikanistik und Germanistik; zunächst Radiojournalistin und Kulturorganisatorin (Ingeborg-Bachmann-Preis), Leiterin des Fachbereiches Angewandte Germanistik an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Arbeiten zum literarischen Leben, zu Buchwissenschaft, Schreib- und Leseprozessen, Gegenwartsliteratur. 2014 Herausgeberin (gemeinsam mit Fabjan Hafner) „Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte“ von Christine Lavant (Wallstein Verlag)

Christine Lavant wurde am 4. Juli 1915 in Großedling bei St. Stefan im Lavanttal geboren. Dieser Tage, am 7. Juni 2023, jährt sich der Todestag dieser bedeutenden Kärntner Schriftstellerin zum 50. Mal.

Autor:

Carina Müller aus Kärnten | Sonntag

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