Universtitätspfarrer Hans-Peter Premur:
Die Inkubationszeit der Kirche

Foto: Pressestelle/Eggenberger

„Nichts wird mehr so sein wie zuvor.“ Das ist die Überzeugung vieler Menschen angesichts der radikalen weltweiten Veränderungen durch die Corona-Krise. Was aber kann die Kirche daraus lernen? Wie wird sich ihre Gestalt nach Corona ändern?
Die Zeit zwischen Ostern und Pfingsten ist für die Kirche immer eine besondere, auch heute, wo die Kirche um ihre neue Gestalt ringt. Wir alle fragen uns, wie es möglich sein wird, wieder die Nähe zuei-nander zu leben, die wir sowohl für die Seelsorge als auch für die Sakramente benötigen..
In der radikalen Gegenwart leben
Der deutsche Lyriker Eugen Roth sagte einmal: „Ein Mensch mit sehr viel List lebt in einer Welt, die nicht mehr ist. Ein anderer, ganz unbeirrt, lebt in einer, die erst wird.“ Diese treffende Lebensweisheit auf die Kirche und ihre Entwicklung umgelegt bedeutet, dass wir weder in der Vergangenheit noch in den Fantasien über eine machbare Zukunft stecken bleiben sollen. Wir sollten bereit sein, uns radikal der Gegenwart zu stellen. Eine Gegenwart, die uns aus der Komfortzone herausgeworfen hat, von der aus wir bisher Seelsorge betrieben haben. Darauf zu warten, bis Menschen wieder an unsere Türen klopfen oder unsere Homepages besuchen, ist Musik von gestern. Dorthin zu gehen, wo die Menschen sich tummeln, wo ihre Sorgen und Nöte und ihre Freuden sind, ist mehr denn je Gebot der Stunde. Wir benötigen daher eine neue Radikalität, die weniger Klerikalismus und mehr Wurzelkraft hat. Eine Radikalität, die nicht gebremst wird von voraus- eilendem Gehorsam, wie dies in der Kirche allzu oft der Fall ist.
Gerade jetzt, wo alle Welt einen „Modus vivendi“ sucht, kommt der Eigenverantwortung die größte Bedeutung zu, damit ein Leben und Überleben garantiert wird. Dies ist mehr denn je auch auf die Kirche zu übertragen, die schon lange dazu eingeladen ist.

Wir werden Solidarität entwickeln in den neuen Bruchstellen, die sich in unserer Gesellschaft auftun werden.

Radikale Eigenverantwortung
Unser Problem bisher war ja das gleiche wie in der Klima- und Mi-grationskrise zuvor: Wir wussten alles – aber wir vermochten nichts. Nun ist da ein brutales, ja letztlich apokalyptisches Tor aufgegangen, das uns als Kirche, als alle, die wir Kirche sind, fundamental herausfordert.
Radikales Hinhören
Jetzt, da alle Welt mit Mund- und Nasenschutz den Abstand praktiziert und die neuen Technologien in den Himmel hinauf gelobt werden, bleibt eines unserer wesentlichen Kommunikationsorgane unbehelligt: das Ohr! Da wir keinen Ohrenschutz benötigen, wird dieses Organ nun stärker gebraucht als bisher. „Wer Ohren hat, der …“ Stärker hinhören auf das, was die Menschen brauchen, hinhören auf meine eigenen Ängste und Irritationen und hinhören auf die verborgene Stimme Gottes in den Zeiterscheinungen ist angesagt. Wenn wir jetzt in einen Antwort-geben-Reflex verfallen, auf Fragen, die wir gar nicht gehört haben, dann laufen wir Gefahr, alten Wein in neue Schläuche zu schütten.
Das radikale Gespräch
Ein altes griechisches Sprichwort sagt, dass der Mangel an Gespräch viele Freundschaften vernichtet. Ein radikales Gespräch ist nicht mit Sitzungen und Meetings zu verwechseln, es geht in die Tiefe. Das mag zwar manchmal unangenehm sein, bringt aber, wie man bei den Emmaus-Jüngern sieht, neue Energien zutage. Solche Gespräche zu führen, untereinander und mit solchen, mit denen wir es bisher nicht getan haben, kann unsere Augen öffnen.
Hier liegt viel braches Land vor uns, und wir werden unsere Sicherheitszonen, ob sie nun Pfarrhöfe, Büros oder Gruppierungen sind, verlassen müssen. Aufstehende und nachgehende Pastoral ist gefragt und darf nichts Paternalistisches haben. Wir als Kirche werden lernen müssen, vom Big Player zum Teamspieler zu werden.
Tatsächlich im Gespräch
Wichtig für die Relevanz von Kirche in Corona-Zeiten wird aber bleiben, ob wir mit den Menschen tatsächlich ins Gespräch kommen und zu den Fragen der Zeit gemeinsam kooperieren. Dabei kann die Begegnung im Freien wie auch das Internet eine große Hilfe sein. Dennoch muss man der digitalen Welt gegenüber kritisch bleiben. Gottesdienste auf dem Datenhighway sollen die Kirche nicht aus dem Dorf treiben, obwohl die Glocken dort täglich läuten. Wir werden einem kirchlich reglementierten Leben und einer Liturgie unter Vorsichtsmaßnahmen nur unter Vorbehalt zustimmen können und uns neue Wege für die Heilige-Mahl-Gemeinschaft einfallen lassen müssen.
Radikaler Wandel
Kirche kann nicht mehr zurück zu alten Mustern und – da bin ich mir sicher – wird Neues entwickeln müssen im Gespräch mit den Menschen. Wenn wir dies nicht inspiriert und gerne tun, werden wir dazu gezwungen werden. Eine harte Rezession kündigt sich an, die auch das Leben der Kirche massiv beeinflussen wird. Es wird uns über kurz oder lang in einem neuen Ausmaß bewusst werden, wie stark wir von den Menschen abhängig sind. Gleichzeitig wird eine Kirche in Österreich sich nicht aus der Verantwortung stehlen können, auf die vulnerablen Teile der Welt schauen zu müssen.
Das Leben der Älteren, das Leben der Armen und das Leben in der Artenvielfalt der Schöpfung wird nach wie vor unser Auftrag bleiben. Wir werden Solidarität entwickeln in den neuen Bruchstellen, die sich in unserer Gesellschaft auftun werden. Um diesen Weg gehen zu können, brauchen wir die Angst vertreibende Kraft aus der Höhe, die uns nur gegeben wird, wenn wir uns radikal hinwenden: zum Jesus des Gebetes, zum Jesus der Heiligen Schrift und zum Jesus in der Begegnung mit den Menschen.

Autor:

Gerald Heschl aus Kärnten | Sonntag

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