Gerlinde Kaltenbrunner im Gespräch
„Gott als höchste Kraft in ihrer reinsten Form“
Gerlinde Kaltenbrunner im Gespräch mit Andreas Raffeiner
Die Extrembergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner aus Attersee in Oberösterreich über Gott, Teil des Ganzen zu sein, die Angst vor dem Tod, Selbstbestimmung und schicksalshafte Fügung.
Frau Kaltenbrunner, kommen Sie eigentlich aus einem frommen bzw. gläubigen Elternhaus?
KALTENBRUNNER: Nein, gar nicht.
Sie sind also überhaupt nicht religiös erzogen worden?
KALTENBRUNNER: Meine Eltern hatten meine Geschwister und mich nicht religiös erzogen, mich jedoch auch nicht aufgehalten, wenn ich in die Kirche gehen wollte. Zur Katholischen Jungschar wollte ich schon als kleines Kind, war aber mit fünf Jahren noch fast zu klein. Durch unseren damaligen Gemeindepfarrer – er war ein sehr weltoffener, naturverbundener und begeisterter Mensch und Bergsteiger – tauchte ich dann tiefer in den Glauben ein.
Was bedeutet Gott für Sie?
KALTENBRUNNER: Früher stellte ich mir Gott als alten, weisen Mann vor, der uns kontrolliert und auch bestraft, wenn wir nicht gut handeln. Durch meine Erfahrungen in Begegnungen mit Menschen und Kulturen anderer Religionen und den vielen Erfahrungen im Grenzbereich bei den verschiedenen Expeditionen, habe ich die wirkliche Tiefe der Bedeutung Gott, die göttliche Kraft, die in uns allen weilt, ein Stück weit erfahren dürfen. Heute ist der Begriff Gott für mich die höchste Kraft in ihrer reinsten Form, in allem und jedem vorhanden– unabhängig von Religionen, Kulturen und Gesellschaften.
Gibt es einen Zustand, in dem Sie sich besonders als Teil des Ganzen sehen – etwa auf einem hohen Berggipfel?KALTENBRUNNER: Vor allem in der stillen Abgeschiedenheit, weit weg von jeglicher Zivilisation und reduziert auf ein Minimum, spüre ich die göttliche Kraft am intensivsten. Bei den letzten Schritten zum Gipfel des K2 durfte ich in diesen Zustand des Eins Sein, verbunden mit allem und jedem, ohne Trennung von irgendetwas, ganz bewusst erfahren. Dieser Zustand trägt mich seither durch alle nur denkbar schwierigen Momente.
Sind Sie Gott bei Ihren Bergerlebnissen am nächsten?
KALTENBRUNNER: Das Göttliche, Gott, oder wie immer man es auch benennen mag – ist für mich immer da, in jedem Moment. Nur in der Natur, am Berg sind wir wahrscheinlich alle mehr in der Stille, dann sind wir offener für diese Wahrnehmung.
Sind Gipfelkreuze in unserer christlich-abendländischen Kultur noch zeitgemäß? Wie sieht ihr Gottesbegriff aus?KALTENBRUNNER: In unserer Kultur sind es die Gipfelkreuze, in Nepal Gebetsfahnen. Ich sehe diese Symbole als Erinnerung, dass es mehr als diesen Körper, den Verstand, die Emotion und Gedanken gibt. Diese Erinnerung, dass alle Lebewesen miteinander verbunden sind und Frieden, Liebe und Bewusstheit diese Verbindung stärkt, wird leider auch in den nächsten Jahrzehnten erforderlich sein.
Haben Sie Angst vor dem Tod, und was glauben Sie, kommt nach ihm?
KALTENBRUNNER: Schon in meiner Zeit als Krankenschwester las ich viel von der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross, was mir sehr geholfen hat, den Tod als Übergang in eine andere Seinsebene zu sehen und zu verstehen. Solange wir ein irdisches Leben führen dürfen, kann man jeden Tag als Geschenk betrachten, um das Leben bewusst und achtsam zu gestalten. Die Angst, egal wovor, vor allem jedoch die Angst vor dem Tod, lässt einen Dinge tun, die einerseits nicht hilfreich für die eigene Weiterentwicklung sind und uns andererseits daran hindern, richtig am Leben zu sein.
Warum zeichnet uns Menschen die Seele aus?
KALTENBRUNNER: Vielleicht ist die Seele in allem und jedem. Ich weiß es nicht. Was uns Menschen auszeichnet ist die Wahlfreiheit. Ein Löwe ist ein Löwe und er muss, um zu überleben, andere Tiere töten. Menschen haben immer die Wahl. Wir können uns für einen bewusstseinsentwickelnden Weg, die rein pflanzliche Kost, für Verbindung, ... bewusst entscheiden. Wir können Aggression mit Mitgefühl, Ärger mit Verständnis und Anklage mit Liebe begegnen. Wir haben die Wahl.
Selbstbestimmung oder schicksalhafte Festlegung: Wo steht der Mensch?
KALTENBRUNNER: Selbstbestimmung und Karma. Ich persönlich glaube an das karmische Gesetz von Ursache und Wirkung und an die Wiedergeburt. All das was uns in der Gegenwart begegnet, haben wir meiner Meinung nach selbst durch unsere Handlungen – in diesem oder einem früheren Leben – kreiert, und so kommt wieder alles zu uns zurück. Dennoch sind wir selbstbestimmt. Denn in jedem Moment meines Seins kann ich mit meinen gegenwärtigen Handlungen, Worten und Gedanken meine karmischen Verstrickungen transformieren und mein Leben für die Zukunft selbst NEU gestalten.
Welche drei Werte sind für Sie die bedeutendsten?
KALTENBRUNNER: Die Wahrhaftigkeit und das Mitgefühl. Wir sollten einander nicht verletzen.
Ein (biblisches oder weltliches) Zitat als Lebensmotto…
KALTENBRUNNER: Das Zitat von Václav Havel: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit dass es Sinn hat, egal wie es ausgeht.“
Zur Person:
Gerlinde Kaltenbrunner, geboren am 13. Dezember 1970 in Kirchdorf an der Krems, ist eine der erfolgreichsten Höhenbergsteigerinnen der Welt. Mit dem Erreichen des Gipfels des K2 am 23. August 2011 erreichte die ausgebildete Krankenschwester ein ganz großes Ziel. Sie schaffte es, alle vierzehn Achttausender zu besteigen. Gerlinde Kaltenbrunner ist darüber hinaus die erste Frau, der das ohne zusätzlich mitgeführten Sauerstoff gelungen ist. Bereits im Alter von 13 Jahren begann sie mit dem Felsklettern. Zehn Jahre später stand sie erstmals auf dem Gipfel eines Achttausenders, dem Broad Peak im Karakoru, an der Grenze zwischen Pakistan und China.
Autor:Sonntag Redaktion aus Kärnten | Sonntag |
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