Theaterwanderung auf den Spuren der NS-Zeit
Auf der Flucht
Aktueller könnte das Thema kaum sein, auch wenn das „teatro caprile“ das Stück „Auf der Flucht“ bereits zum neunten Mal auf den Berg bringt. Gemeinsam mit den Schauspieler/innen macht man sich bei der „interaktiven Theaterwanderung“ auf in die Vergangenheit. Und wird von ihr eingeholt.
Simone Rinner
Sieben Grad, Dauerregen und Nebel sind nicht das, was man sich für eine (Theater)-Wanderung wünscht, die über fünf Stunden dauern wird. „Perfektes Fluchtwetter“, grinst der erfahrene Moderator Friedrich Juen nur und ist damit schon mitten im Thema - im Jahr 1938. Damals, als nach dem gewaltsamen „Anschluss“ viele aus Österreich flüchten mussten und ihr Glück mithilfe von „Fluchthelfern“ von Gargellen über das Sarotla-Joch Richtung Schweiz versuchten. Am besten bei Nacht und Nebel. Einer dieser Fluchthelfer war der Gargellener Meinrad Juen, der so mindestens 42 Menschen das Leben rettete - und dessen Großneffe Friedrich heute zig Zuschauer/innen seit neun Jahren „Auf der Flucht“ begleitet. Im Gepäck hat er nicht nur Anekdoten und eine Prise Humor, sondern auch viel Engagement für die Geschichte und die zahlreichen Schicksale, auf deren Pfaden die Besucher/innen wandern.
Zwei Schritt, ein Höhenmeter
Steil schlängelt sich der Weg durch Schlucht und Wald, an Wasserfall und Pilzen vorbei, bis man endlich bei der Ronggalpe oberhalb von Gargellen, auf 1640 Meter Seehöhe, angekommen ist. „Zwei Schritt, ein Höhenmeter“, lacht Juen und gibt der Gruppe kurz Zeit durchzuatmen. Atem, der bald stocken wird, denn in der leeren „Jauchegrube“ vor dem über 600 Jahre alten Stall liegt eine Frau (Maria King). Völlig durchnässt und zitternd versucht sie erschöpft ihrem kalten Betongefängnis zu entkommen. „Erniedrigung macht niedrig. Das ist ein Seelengesetz. Der Gegenstand einer anhaltenden Grausamkeit rechtfertigt diese am Ende. Darin liegt eine der härtesten Härten des Lebens“, durchbricht eine zweite Frau (Katharina Grabher) die Stille. Betroffen und sprachlos schauen die Zuschauer/innen hin oder auch weg, bis ihr endlich zwei von ihnen aus der Grube helfen. Kurz lässt Juen das Gesehene wirken, dann geht es weiter Richtung Röbialpe.
30 Münza för den Judas
Dort diskutieren zwei alte Einheimische über „damals“ und ob man die Erinnerung wachhalten muss. „I dr Bibel schtoht, 30 Münza för den Judas. Z´Gargella hots zwämol 30 ge“, spielt Serafina auf die Geschichte von Nikolaus Staudt an. Mehrere vermeintliche Fluchthelfer ließen sich damals von dem Studenten all seine Wertsachen als Bezahlung geben, kurz vor dem Gafierjoch schrien sie aber und flohen. Zehn Schritte vor der Grenze wurde Staudt angeschossen und erschoss sich - um sich der Gefangenschaft zu entziehen - selbst. Angeblich wurde er an den Beinen bis zur Madrisa Hütte gezogen und nur notdürftig verscharrt, sodass „d´Füchs i dr Nacht ko“ sind. Dann seien die Gargellener endlich aufgewacht und hätten die Überreste nachts um zehn auf dem Friedhof beigesetzt.
Ausweis bereithalten!
Zum Verdauen der grausigen Geschichte bleibt nur wenig Zeit. Friedrich erzählt aus dem Leben seines Vorfahren und verschafft den Schauspieler/innen so Minuten, zum nächsten Schauplatz zu eilen. Ein Kunststück, das sie übrigens alle mit Bravour unbemerkt auf Nebenpfaden meistern. „Ausweis bereithalten!“, ertönt es plötzlich über den Zuschauer/innen von einem Schweizer Zöllner. „Man muss eben schauen, welchem Führer man folgt“, höhnt gleichzeitig ein Gestapo-Mann von der Seite, dass die Zuschauer/innen sich nun in einer Sackgasse befänden, aus der es eine Lösung gebe: „Wir haben nichts dagegen, wenn Juden mit sich Schluss machen. Lasst all eure Hoffnung fahren!“ Schnell wird die Flucht nach hinten angetreten. Schnell und leise. Es gehöre zu Dramaturgie, dass die Zuschauer sich in unterschiedlichen Rollen wiederfinden, erklärt Katharina Grabher, die auch für das Konzept verantwortlich zeichnet. „Als Opfer, als Mittäter, auch als Personen, die sich gezwungen sehen, Entscheidungen zu treffen.“
Unsere Schuhe warten
Die Frage des Nazi-Offiziers, ob man zwei Frauen mosaischer Herkunft gesehen habe, bleibt vom Publikum unbeantwortet. Auch als der Offizier droht, Streichhölzer und Benzin für eine „warme Beerdigung“ im Stall zu verwenden. Hätte man damals auch so geantwortet? Zivilcourage gezeigt?, stellt Juen in den Raum. „Mein Leben fließt an mir ab wie ein großer Regen. Alles musste zurückbleiben. Ich bin nur noch ein Buchstabe auf meinem Pass. Man kann mit mir anstellen was man will. In wenigen Sekunden haben wir aufgehört Menschen zu sein“, reflektieren die gesuchten Frauen die vergangenen Tage und ihre Zukunft. „Unsere Schuhe warten“, drängt die eine, weiterzugehen. Was mit ihnen passieren wird, haben die Zuschauer/innen schon in der ersten Szene erfahren, als die Frau des Grenzpostens weinend von den beiden jüdischen Lehrer/innen erzählt, die sich nach ihrer Festnahme in der Zelle erhängten. „Es ist eigentlich nicht viel Theater, es ist viel Wirklichkeit dabei“, betont Friedrich Juen. Authentisch sind dabei nicht nur die Geschichten und die Bergkulisse, sondern vor allem auch die Schauspieler/innen, die zum Teil auch ohne Worte vermitteln, worum es geht. Oder eben im breiten „Muntafunerisch“, wie Friedrich Juen. Schließlich wurde der Dialekt von der UNESCO zum immateriellen Kulturerbe erklärt, betont er stolz.
Was eine Sardinendose anrichten kann
Basierend auf Zeitzeugenberichten, historischen Dokumenten und literarischen Texten von Franz Werfel, Jura Soyfer und anderen Schriftstellern, die nach dem Anschluss flüchten mussten, nimmt „teatro caprile“ die Zuschauer/innen mit auf eine Zeitreise. Auch wenn man die Namen der beiden Frauen nicht weiß, ist ihr Schicksal dennoch bekannt. So wie jenes des Schrifstellers Jura Soyfer, der einen Tag nach dem Anschluss, beim Versuch in die Schweiz zu fliehen, von Zöllnern aufgehalten wurde. In seinem Gepäck fand man eine Konservendose, eingewickelt in eine Seite einer Gewerkschaftszeitung - für die Zöllner Grund genug, Soyfer in den Dorfkerker von St. Gallenkirch zu bringen. Von dort ging es für ihn über Feldkirch ins KZ Dachau und schließlich nach Buchenwald, wo er 1939 an Typhus starb. Eine Erinnerung, die die Zuschauer/innen mit der „Eintrittskarte“ - einer Sardinendose, eingewickelt in ein Zeitungs-Faksimile - mit nach Hause begleitet.
Wir leben ewig
Auf dem Weg zurück ins Tal begegnen den Zuschauer/innen zwei alte Bekannte aus einer früheren Szene wieder, die auf ihren letzten Fluchtmetern auf einen Schweizer Zöllner treffen. Es scheint alles verloren. Verzweiflung macht sich breit, bis beim Zöllner schließlich doch das Gewissen siegt: „Gehen Sie, aber kein Wort zu niemandem!“ Fast ein Happy End.
Mehr zum Stück „Auf der Flucht“ und zum Ensemble unter www.teatro-caprile.at
(aus dem Vorarlberger KirchenBlatt Nr. 35 vom 2. September 2021)
Autor:KirchenBlatt Redaktion aus Vorarlberg | KirchenBlatt |
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