Internationaler Holocaust-Gedenktag am 27. Jänner 2020
Wie NS-Täter fliehen konnten
Am 27. Jänner jährte sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau zum 75. Mal. Aus Anlass des Internationalen Holocaust-Gedenktages referierte der Historiker Gerald J. Steinacher am Montag dieser Woche im Hohenemser Salomon Sulzer Saal über die Fluchtrouten von NS-Tätern nach 1945. Das KirchenBlatt hat zudem bei Kirchenhistorikern wegen der bevorstehenden Öffnung von Vatikanarchiven aus dieser Zeit nachgefragt.
Wolfgang Ölz
Gerald Steinacher, geboren 1970 in St. Johann in Tirol, habilitierte sich 2008 am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck. Nach einer Professur in Harvard arbeitet er seit 2011 als Professor für Geschichte an der Nebraska-Lincoln-Universität in den USA und gilt als ausgewiesener Experte für die Fluchtrouten von Nationalsozialisten nach dem Zweiten Weltkrieg. In den Fokus seines Vortrags in Hohenems stellte er die Strukturen, die die Flucht von zehntausenden NS-Tätern nach Spanien und Übersee ermöglichten.
Die Fluchtrouten
Steinacher bezeichnet Italien nach 1945 als „Reichsautobahn für Kriegsverbrecher“. Im Chaos nach Kriegsende mischten sich unter die befreiten Holocaust-Überlebenden, vertriebenen Volksdeutschen, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene auch NS-Täter. Viele wollten möglichst rasch nach Übersee. Der Weg führte dabei oft über Südtirol und den Überseehafen Genua. Das Internationale Rote Kreuz stellte bis zu 120.000 Reisedokumente aus.
Zum Teil ausgestattet mit Empfehlungen der österreichischen und deutschen Unterkommission der Päpstlichen Hilfskommission für Flüchtlinge, konnten auch hunderte NS-Verbrecher unerkannt fliehen. Auf diese Weise gelang etwa Adolf Eichmann, Josef Mengele und Franz Stangl die Flucht.
Gespannt auf neue Erkenntnisse
Die Öffnung der Archive zum Pontifikat Pius XII. am 2. März 2020 wird wahrscheinlich Erkenntnisse dazu liefern, was Papst, Kurie und Prälaten über die Täterhilfe der österreichischen und deutschen Unterkommission der Päpstlichen Hilfskommission für Flüchtlinge gewusst haben. „Die Rattenlinie ist jedenfalls ein ganz, ganz wichtiges Thema und überdies ein wissenschaftsgeschichtlich vermintes Gebiet“, weiß der aus Vorarlberg stammende Kirchenhistoriker Mathias Moosbrugger vom Institut für Historische Theologie in Innsbruck. Untersuchungen dieser Art bräuchten jedoch Geduld: Es könne Jahre dauern, bis eine/r der 85 zugelassenen Forscher/innen - auch Prof. Steinacher zählt zu ihnen - das Glück habe, unter den hunderttausenden Akten etwa eine eindeutige Notiz von Pius XII. zu dieser Angelegenheit zu finden. Möglich ist nämlich auch, dass es nur mündliche Absprachen gab.
Die Rolle der Kirche
„Bis dahin sind vorschnelle Schlüsse Kaffeesatzleserei“, meint auch Barbara Schüler, Mitarbeiterin von Prof. Hubert Wolf aus Münster, der einem breiteren Publikum als Kirchengeschichts-Experte, u. a. für die Vatikanarchive in der Zeit des Dritten Reiches, bekannt ist.
Unbestritten ist die amoralische Rolle des aus Österreich stammenden Bischofs Alois Hudal (1885-1963), ehemaliger Rektor des deutschen Priesterkollegs Santa Maria dell’Anima in Rom, der als christlicher Antisemit und deutschnationaler Antikommunist noch 1937 ein propagandistisches Buch über den Nationalsozialismus schreiben konnte. Bischof Hudal brüstete sich nach dem Krieg, etwa Franz Stangl zur Flucht verholfen zu haben. Stangl war Kommandant des Vernichtungslagers Treblinka, wo eine Million Menschen ermordet wurden.
Autor:KirchenBlatt Redaktion aus Vorarlberg | KirchenBlatt |
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