Gesellschaftspolitischer Stammtisch mit Reinhard Haller
Welche Normalität wollen sie?

Corona-Proteste sind ein Zeichen unserer Zeit. Als Covidioten werden abwertend Menschen bezeichnet, die die Corona-Maßnahmen der Regierungen kritisch oder ablehnend sehen. Prof. Dr. Reinhard Haller nahm in seinem Referat beim Gesellschaftspolitischen Stammtisch wichtige Differenzierungen dieser Pauschalzuschreibungen vor.  | Foto: Kajetan Sumila / unsplash.com
  • Corona-Proteste sind ein Zeichen unserer Zeit. Als Covidioten werden abwertend Menschen bezeichnet, die die Corona-Maßnahmen der Regierungen kritisch oder ablehnend sehen. Prof. Dr. Reinhard Haller nahm in seinem Referat beim Gesellschaftspolitischen Stammtisch wichtige Differenzierungen dieser Pauschalzuschreibungen vor.
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Der Gesellschaftspolitische Stammtisch widmete sich vergangenen Montag der Frage „Warum steigen immer mehr Menschen aus der Wirklichkeit aus?“. Prof. Dr. Reinhard Haller traf in seinem Grundsatzreferat wichtige Differenzierungen.

Wolfgang Ölz

Der Moderator und Journalist Thomas Matt stellte am Anfang klar, dass es durch die sozialen Medien noch nie so viele Verschwörungstheorien wie heute gäbe, und dass diese faszinieren, mobilisieren und vor allem gefährlich seien. Die Verschwörungstheorien antworten auf Ängste mit scheinbar plausiblen Erklärungen und Enthüllungen. Sie besitzen laut Matt soziale Sprengkraft, weil sie Familien trennen, reale Ängste schüren und die verrücktesten Allianzen von links bis rechts begründen. Expert/innen empfehlen übrigens, von Verschwörungserzählungen, Verschwörungsmythen oder Verschwörungsphantasien zu sprechen, denn das Wort „Theorie“ weist darauf hin, dass es sich um Tatsachen, um „faktenbasierte Evidenzen“ handelt.

Unterscheidung

Reinhard Haller plädiert für eine differenzierte Sicht auf Menschen, die den staatlichen Coronamaßnahmen kritisch gegenüberstehen. „Es geht in meinem Vortrag nicht um Personen, die berechtigte Zweifel hegen, die als Coronaskeptiker/innen auch um Toleranz und konstruktive Lösungen ringen und etwa auf Kollateralschäden der Maßnahmen in Bildung, bei Kindern und alten Menschen hinweisen“, sagte Haller. Es gebe jedoch bestimmte paranoide, fanatische und auch narzisstische Charaktereigenschaften, die die Menschen gegen Coronamaßnahmen auf die Barrikaden gehen lassen. Der Narzisst ist überzeugt, dass nur seine Wahrheit die richtige ist. Es gibt dagegen eine kleine Gruppe, Haller spricht von 0,1 bis 0,2 Prozent der Personen, die wirklich paranoid sind. Der Psychiater Haller empfiehlt, mit wahnhaften Menschen eine Diskussion zu vermeiden.

Positive Querdenker

Dass die Wissenschaft zu wenig eingestehe, dass das Corona-Virus auch für die Forschung unkalkulierbar sei, hält Reinhard Haller für ein Problem. Da sei es nur verständlich, dass die Unberechenbarkeit des Virus eine Spielwiese für eigene Theorien der Menschen eröffnet. Dabei seien Querdenker/innen keineswegs Querulant/
innen, sondern im Gegenteil mitunter sehr positiv, weil sie das normale Denken verlassen und „ver-rückt“ sind und so mögliche Lösungen in den Blick bekommen.

Der Psychotherapeut Reinhard Haller problematisiert im Hinblick auf Corona den landläufigen Begriff von Normalität. Es gibt ihm zufolge verschiedene Definitionen von Normalität: der mathematische, statistische Mittelwert, die Auffassung „normal ist wer funktioniert“, die Meinung „normal ist was vollkommen ist - alles andere ist krank“ und „normal ist, was ich als normal empfinde“. Diese letztere Normalität ist eben die Normalität des Narzissten, der sagt: „Meine Normalität ist die, an die sich alle halten sollen, dafür kämpfe ich und schlägere mich unter Umständen auch mit der Polizei.“ Und dann gibt es noch die Vorarlberger Auffassung von Normalität: „Wer nicht ‚ghörig‘ ist, ist nicht normal.“ Das meint auch, wer nicht der allgemeinen Meinung „hörig“ ist, ist nicht ganz normal, ja mitunter verrückt.

Wenn nun jemand an einer Coronademonstration teilnehme, dann tauche er in eine Masse ein, gebe vielleicht ein stückweit seine Individualität auf. Es komme zu einer Eigendynamik, die zu Aggressionsabfuhr, Kampf und Krieg führe. So gesehen biete Corona „Berufsprotestierer/innen“ eine Bühne, Dampf abzulassen.

Kein Ende

Auf eine Frage aus dem Publikum, ob wahnhafte Phantasien nach der Pandemie verschwinden werden, meinte Prof. Reinhard Haller, die menschlichen Phantasien werden immer ihre Geschichten finden. In der Zeit des Kalten Krieges war es die Angst, dass die Russen kommen, später die Befürchtungen, dass die Marsmenschen gelandet sind und dann etwa die Panik, dass die Chines/innen uns überrollen.

(aus dem Vorarlberger KirchenBlatt Nr. 18 vom 6. Mai 2021)

Autor:

KirchenBlatt Redaktion aus Vorarlberg | KirchenBlatt

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