Interview mit Vatikanexperte Marco Politi
„Es gibt Hass in der Kirche“

Papst Franziskus steht einer krisengeschüttelten Kirche vor.  | Foto: FILIPPO MONTEFORTE / AFP / picturedesk.com
  • Papst Franziskus steht einer krisengeschüttelten Kirche vor.
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Die Kirche ist krisengeschüttelt: Probleme mit den Bilanzen des Vatikans, nicht zu tolerierender Umgang mit Missbrauch, eine stockende Kurienreform. Um mittendrin Papst Franziskus. Der Vatikanexperte Marco Politi erläutert, wie Papst Franziskus die katholische Kirche in dieser Situation leitet und wohin er sie führen will.

Im Vatikan sitzt nun ein Kardinal wegen Misswirtschaft und Korruption auf der Anklagebank. Alles, was davon an die Öffentlichkeit kommt, klingt nach purem finanzpolitischem Chaos – zumindest vom fernen Österreich aus betrachtet. Hat der Papst das noch im Griff?
Marco Politi:
Nicht Chaos, das Gegenteil ist der Fall. Die Fehlinvestition des vatikanischen Staatssekretariats – leider wurden in London 300 Millionen Euro verschwendet – wurde nicht von Journalisten oder von außen an die Öffentlichkeit gebracht, sondern von der Vatikanbank und den Generalrevisoren selbst. Das zeigt, dass die Strukturen, die Papst Franziskus gestärkt und auch neu geschaffen hat, funktionieren. Das ist eine wirkliche Neuigkeit. Früher wäre der Dreck unter den Teppich gefegt worden.

Ist da dem Papst etwas gelungen?
Politi:
Ja. Papst Franziskus räumt auf.

Von der Wirtschaft zur Pastoral. Papst Franziskus nimmt immer wieder verständnisvoll zur Homosexualität Stellung und im Handumdrehen – im Februar 2021 – veröffentlicht die Glaubenskongregation mit seiner Zustimmung ein Verbot der Segnung homosexueller Paare. Das verwirrt.
Politi:
Ja, das verwirrt ganz bestimmt. Man muss aber im Auge behalten, dass Franziskus ein Politiker ist. Deswegen kann er manchmal zickzack fahren. Franziskus regiert lieber mit Gesten und Worten, als dass er Gesetze ändert. Seitdem er Papst ist, hat er die ganze Dämonisierung der Homosexualität, die es in den Pontifikaten von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. gab, vom Tisch gewischt. Und zwar in dem Moment, als er gesagt hat: „Wer bin ich, dass ich über einen homosexuellen Menschen ein Urteil fällen dürfte.“

Aber das Dokument der Glaubenskongregation gibt es trotzdem.
Politi:
Dieses altmodische Schreiben gibt es, weil die Kräfteverhältnisse in der Kirche so sind, dass noch eine sehr starke konservative Strömung besteht. Da ist der Papst wie ein Schiffskapitän, der zwischen den Eisbergen steuern muss. Aber das Kirchenvolk hat schon verstanden, dass Homosexualität kein Problem ist. In ein paar Jahren wird man dieses kleine Dokument der Glaubenskongregation völlig vergessen haben.


Für viele Katholik/innen war das Ergebnis der Amazoniensynode im Oktober 2019 eine bittere Enttäuschung. Vorher schürte der Papst die Hoffnung, dass er die Möglichkeit eröffnen würde, verheiratete Männer zu Priestern zu weihen. Im Synodendokument „Querida Amazonia“ ist davon nichts mehr zu lesen.
Politi:
Das bildet die Situation in der katholischen Kirche ab. Papst Franziskus hat die Amazoniensynode und die freie Debatte der Bischöfe möglich gemacht. Das ist ein großer Sprung nach vorne, wenn man an die Vergangenheit denkt. Da gab es überhaupt nicht die Möglichkeit, vor und mit dem Papst über verheiratete Priester zu diskutieren. Papst Franziskus hat für verheiratete Priester nicht die Erlaubnis gegeben, weil in der katholischen Kirche seit Jahren ein Bürgerkrieg tobt. Angefangen hat er bei der Familiensynode 2015, wo die traditionalistischen und konservativen Kräfte stark gegen den Papst mobilisiert haben. Es gibt Hass in der Kirche. Die Aggressivität wird jedes Jahr schlimmer. Der Papst muss das Kräfteverhältnis innerhalb der Kirche zur Kenntnis und in Kauf nehmen. Es ist nicht wahr, dass der Papst Alleinherrscher ist und alles entscheiden kann, so wie er will.


Wodurch hat sich ein so starker konservativer Block in der Kirche aufgebaut?
Politi:
Weil in den letzten vierzig Jahren durch Papst Wojtyła und Papst Ratzinger immer nur sehr gehorsame Bischöfe ernannt wurden, die keine Probleme aufwarfen. Die Mehrheit der Bischöfe will nichts an der Lehre ändern oder hat Angst. Das ist die Situation. Der Papst öffnet eine Baustelle, aber es braucht dann Zeit – über sein Pontifikat hinaus.

Brennend ist auch die Frauenfrage. Jetzt gibt es bereits die zweite Studienkommission über den Diakonat der Frau. Man hat den Eindruck, dass der Papst nicht entscheiden will.
Politi:
Ja, das ist eine große Enttäuschung für die Gläubigen. Der Papst schiebt das aber nicht auf die lange Bank. Die erste Kommission war total gespalten, aus der zweiten kommt bislang nichts. Deswegen versucht der Papst in der Zwischenzeit, viele Frauen in Führungsposition im Vatikan zu bringen. Zum ersten Mal gibt es eine Frau im Rat der Bischofssynode. Sie wird die erste Frau sein, die bei einer Bischofssynode Stimmrecht hat.

Große Zustimmung erhält der Papst für seine Enzyklika „Laudato si‘“, in der es um die Bewahrung der Schöpfung geht.
Politi:
Der Papst hat einen hervorragenden Blick für die Probleme der Zeit.

Ein kirchliches Megathema ist der Missbrauch. Sehen Sie da die Chance, dass die Kirche jemals wieder das Gesetz des Handelns erhält und nicht von Skandal zu Skandal getrieben wird?
Politi:
Manchmal habe ich den Eindruck, dass man im deutschsprachigen Raum vergisst, wie viel gerade schon in den deutschsprachigen Ländern getan worden ist. Auch in Nordeuropa hat sich eine gute Struktur gebildet, um Missbrauchsfälle aufzuarbeiten. Das gelingt – sagen wir – zu 80 Prozent gut und zu 20 Prozent weniger. Aber die Struktur ist da. Hier hat der Papst eine große Neuerung gebracht, die es vorher in der katholischen Kirche nicht gab. Denken sie daran, wie viele Bischöfe von ihrem Amt enthoben wurden. Das sind nicht Worte, das sind Taten.


Papst Franziskus hat sich mit Eifer an die Kurienreform gemacht, aber es scheint sich wenig geändert zu haben. Zum Beispiel die Bischofsernennungen, die für die Diözesen ganz entscheidend sind, bleiben undurchsichtig wie eh und je.
Politi:
Ich glaube, dass das Dokument über Kurienreform, das bald herauskommen soll, für viele eine Enttäuschung sein wird. Es scheint, dass da nichts Besonderes drinsteht, außer dass die Kurie ein wenig schlanker geworden ist, und dass die Glaubenskongregation nicht mehr die erste, die führende Kongregation ist. An oberster Stelle wird die Kongregation für die Evangelisierung stehen. Weit wichtiger als das Dokument wird die große Synode sein, die jetzt anläuft.

Die Synode, bei der es um die Synodalität der Kirche geht.
Politi:
Ja, dort soll man diskutieren: Was heißt Kirche als Gemeinschaft, wie geht Teilhabe. Dort ist auch der Platz für die Frage der Bischofsernennungen. Das Gelingen dieser Synode hängt aber nicht vom Vatikan, sondern von den Bischöfen ab, inwieweit sie auf die Gläubigen hören wollen, auf die Frauen, auf die Christen, die sich von der Kirche entfernt haben.

Die Frage bleibt: Wie viel von dem, was Papst Franziskus angestoßen hat, ist unumkehrbar oder was könnte ein Nachfolger wieder aus der Welt schaffen?
Politi:
Ich glaube, dass das meiste unumkehrbar ist. Unumkehrbar ist vor allem, dass Kirche nicht kommandieren soll, sondern eine Gemeinschaft ist, die inmitten der Menschen lebt. Da kann man nicht mehr zurück. «


Marco Politi

Der Journalist Marco Politi, geboren 1947 in Rom, arbeitete Jahrzehnte als Vatikanberichterstatter für italienische Zeitungen. Er gilt als einer der bekanntesten „Vaticanisti“ und als absolut seriös. Anlässlich seines jüngsten Buches „Im Auge des Sturms“ hat ihn die KirchenZeitung zum Gespräch getroffen.

Moment

Zu viel Passivität in der Kirche

Herr Politi, wie charakterisieren Sie die aktuelle Situation der katholischen Kirche?
Politi:
Ich habe den Eindruck, dass es in diesem historischen Moment in der Weltkirche eine zu große Passivität gibt. Es gibt zu wenig Diskussion. Deutschland ist eine Ausnahme. Der synodale Weg ist sehr interessant. Doch die Bischöfe und Kardinäle reagieren nicht darauf, auch nicht, wenn der Papst etwas sagt. Das große Schweigen ist negativ für die Weiterentwicklung der Kirche. Wenn es keine Diskussion gibt, kann es keine Reform geben. Schlimmer als die Krise kann nur sein, die Krise durch Schweigen zu verlängern.

Was erwarten Sie im Herbst des Pontifikats, wie sie sehr vornehm formulieren, noch an konkreten Maßnahmen vom bald 85-jährigen Papst Franziskus?
Politi:
Das ist eindeutig die Synode über die Synodalität. Synodalität bedeutet, dass man die Kirche vom alten monarchischen Modell in eine mehr partizipative, teilnehmende Kirche transformieren soll. Das ist eine große Neuigkeit.

Im Auge des Sturms.
Marco Politi beschäftigt sich in „Im Auge des Sturms“damit, wie der Papst mit den Herausforderungen der Pandemie umgeht.
Marco Politi: Im Auge des Sturms, Herder 2021, 187 Seiten, € 18,60.

Autor:

KirchenZeitung Redaktion aus Oberösterreich | KirchenZeitung

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