„Eine Richtschnur, an der sich der Glaube ausrichtet“

Foto: Gina Sanders / Stock Adobe

Die knappe Zusammenfassung eines Vortrags der Tübinger Theologin Johanna Rahner aus einer Agenturmeldung hat zu Diskussionen über die Veränderbarkeit von Dogmen auf den Leserbriefseiten geführt. Was Dogmen sind und wie das mit einer Veränderung aussieht, erklärt Franz Gruber, Professor der Dogmatik und Ökumenischen Theologie an der Katholischen Privat-Universität Linz im Interview. Die Fragen stellte Heinz Niederleitner

Wie haben Sie die Diskussion über die Veränderungsfähigkeit von Dogmen auf den Leserbriefseiten der KirchenZeitung wahrgenommen?
Franz Gruber: Ausgelöst wurde die Diskussion durch einen redaktionellen Text der KirchenZeitung, der einen Vortrag zusammenfasst. Bevor man mit solcher Kritik auffährt, muss zunächst klar sein, was Prof. Rahner wörtlich gesagt hat. Irritiert hat mich an der Reaktion von fünf Priestern zweierlei: Einerseits, dass sie sofort in lehramtlicher Eigenanmaßung der Theologin den katholischen Glauben absprechen, wozu sie von Amts wegen überhaupt nicht legitimiert sind, zweitens, dass sie sich dabei auf das Zweite Vatikanische Konzil berufen. Das ist so aus diesem Text nicht herauszulesen: Gerade das II. Vatikanum hat klargemacht, dass jeder Glaubenssatz, jedes Dogma in einem Kontext steht. Man kann Dogmen nicht losgelöst von der Situation interpretieren, in der sie jeweils entstanden sind. Das Zweite Vatikanische Konzil mutet uns zu, die Wahrheit immer auch im Wandel zu erkennen. Das betrifft auch Dogmen.

Was sind Dogmen überhaupt?
Gruber: Im ursprünglichen Sinn ist ein Dogma eine Art Richtschnur, an der sich der Glaube verbindlich ausrichtet. Dogmen entstanden in Situationen der Kirchengeschichte, als Glaubensinhalte unterschiedlich ausgelegt wurden. Das führte die Gefahr des Konflikts und der Spaltung mit sich. Als das Christentum Staatsreligion wurde, wurden Konzilien eingeführt, um bei strittigen Positionen verbindliche Aussagen zu formulieren. Das wirkte auch disziplinierend: Wer diesen Konsens nicht akzeptierte, wurde aus der Kirche ausgeschlossen. Lehrdefinitionen haben nach außen die Funktion der Grenzziehung. Soziologisch nichts Außergewöhnliches: Jeder Verein, jede Partei hat Statuten und kommt in Situationen, wo festgestellt werden muss, ob etwas noch dem Selbstverständnis entspricht oder nicht.
Nach innen bieten Dogmen Orientierung. Nun bin ich mir sicher, dass man meine Kollegin Johanna Rahner nicht so verstehen darf, dass wir Dogmen beliebig ändern könnten. Aber sie entstehen in einer jeweils speziellen Situation. Wenn sich die Umstände wandeln, muss die Theologie versuchen zu klären, was der ursprüngliche Sinn des Dogmas ist und was nur sprachliche Einkleidung, die nicht zur Definition gehört. Insofern stimmt es: Wenn sich die Zeit ändert, müssen wir uns die Frage stellen, wie der Wahrheitssinn eines Dogma neu gesagt werden kann.

Gibt es eine verbindliche Liste von Dogmen?
Gruber: Im 19. Jahrhundert hat man versucht, die Glaubenssubstanz auf eine Sammlung von Sätzen zu reduzieren. Auch heute noch gibt es den Denzinger-Hünermann als Referenzbuch für lehramtliche Definitionen. Die katholische Kirche hat – wie alle Religionen – den Anspruch, verbindliche Wahrheiten zu verkünden. Die Theologie hat den Auftrag, dieses Wahrheitsverständnis immer wieder neu zu ergründen. Um ein Beispiel zu nennen: Das Zweite Vatikanische Konzil musste den im Mittelalter definierten Satz „Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil“ neu auslegen. Die geniale Lösung war: Über diesem Satz steht der noch viel höhere Grundsatz, dass Gott das Heil aller Menschen will und die Kirche das Werkzeug ist, diese universale Liebe Gottes darzustellen. Das alte Dogma ist damit buchstäblich im neuen Satz aufgehoben. Seitdem kann die Kirche Nichtgläubigen oder Nichtgetauften nicht einfach das Heil absprechen. Hätten das Konzil diese Neuinterpretation nicht geleistet, würden wir bis heute das Evangelium Jesu missverstehen. Man sieht: Dogmen haben eine Dienstfunktion. Die letzte Autorität liegt immer bei Gott selbst und ihn haben wir weder sprachlich noch dogmatisch „im Griff“.
Das Zweite Vatikanische Konzil spricht von einer „Hierarchie der Wahrheiten“. Was bedeutet das?
Gruber: Im Kern des Glaubens steht das Verständnis von Gott, Jesus Christus, Schöpfung, Erlösung, Vollendung. Indem die Kirche wuchs, musste sie im Laufe ihrer Geschichte immer mehr regeln. So entstanden auch Lehrdefinitionen, die nicht so zentral sind wie andere. Sogar an der lateinischen Fassung des Glaubensbekenntnisses lässt sich das zeigen: Wenn es um Gott Vater, Sohn und Heiligen Geist geht, lautet die Formulierung „credo in“. Damit ist mehr gemeint, als die deutsche Übersetzung „Ich glaube an“ ausdrückt, nämlich ein Anvertrauen mit der ganzen personalen Existenz. Wenn es dann um die Kirche geht, steht „credo unam, santam, catholicam et apostolicam ecclesiam“ – „ich glaube an die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“. Das „in“ fehlt. In der deutschen Übersetzung wird nicht sichtbar, dass dieses „credo“ schwächer formuliert als jenes „credo in“ an den dreifaltigen Gott. Es gibt also Wahrheiten, mit denen alles steht und fällt, und davon abgeleitete Wahrheiten, wie etwa Glaubensaussagen über die Kirche.

Was ist das Forschungsgebiet des Dogmatikers?
Gruber: Er oder sie beschäftigt sich mit den Glaubensinhalten. Die Fragen nach Gott, Schöpfung, Jesus Christus, Auferstehung, Erlösung, ewigem Leben und Kirche sind zentrale Themen meines Faches, wobei einem die ganze zweitausendjährige Tradition der Theologie entgegenkommt. Ich bevorzuge aufgrund der Belastung des Begriffs „Dogmatiker“ eher „systematischer Theologe“. Dabei geht es mir besonders darum, den Glauben auskunftsfähig zu machen. Wie kann man den Glauben so erschließen, dass er auch von heutigen Menschen verstanden wird? Wie kann ich ihn mit unserem Wissen, Weltbild und unserer Lebensweise ins Gespräch bringen? Die Theologie muss daran arbeiten, dass Glaubenssätze verstehbar bleiben.

Muss man dafür nicht vor allem auf die Vernunft setzen, welche glaubende und nichtglaubende Menschen teilen?
Gruber: In der gesamten katholischen Tradition gibt es das Plädoyer, Glaube mit Vernunft zu leben – ohne den Anspruch, mit Vernunft auch alles zu erfassen, denn die Gotteswirklichkeit verschließt sich im Letzten der bloßen rationalen Erkenntnis. Aber Glaube darf nie vom Anspruch getrennt werden, ihn verstehen zu können. Glaubende, besonders Amtsträger, müssen fähig sein, den Glauben anderen zu erschließen. Das ist gerade in einer Welt, in der nicht mehr selbstverständlich religiös geglaubt wird, viel dringlicher als früher. Heute verstehen Menschen nicht von vorneherein, was es bedeutet, einen religiösen Glauben zu haben. Es ist eine der größten Krisen des Christentums, dass wir hinsichtlich unseres Glaubens oft nicht mehr auskunftsfähig sind.

Autor:

KirchenZeitung Redaktion aus Oberösterreich | KirchenZeitung

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