„Wir haben eine Art Vollkasko-Mentalität“

Foto: Franz Litzlbauer

Viele Menschen zieht es zurzeit auf die Almen zum Wandern. Dem dortigen Weidevieh begegnen sie nicht immer rücksichtsvoll. Moraltheologe Michael Rosenberger ortet als Ursache ein schwindendes Gefahrenbewusstsein.

Auf der Alm, da gibt‘s ka Sünd. Vielleicht aber doch, wenn man sich folgende Situationen vor Augen führt, die alle vor kurzem an unterschiedlichen Orten in Österreich geschehen sind: Die Eltern eines kleinen Kindes setzen dieses auf ein Kalb, um ein Foto zu machen. Das Kalb steht auf und trabt davon, bevor die Mutterkuh die Familie ins Visier nehmen kann. Woanders steht eine Person vor einer Herde Kühe und führt einen wilden Tanz auf, der die Tiere dermaßen erschreckt, dass sie flüchten. Das ganze nennt sich „Kulikitaka-Challenge“, eine Mutprobe auf der Social-Media-Plattform Tiktok. Wieder an einem anderen Ort geht eine Wanderin mit einem Stock auf einen Ochsen los, um ihn von einem Wanderweg zu vetreiben. 

Verlorenes Gefahrenbewusstsein
Die Fälle, wo sich Wanderer/innen rücksichtslos gegenüber Weidetieren verhalten, scheinen sich zu häufen. Wie lässt sich dieses Verhalten erklären? Dazu Moraltheologe Michael Rosenberger von der Katholischen Privat-Universität Linz: „Ich glaube, dass wir in den letzten Jahrzehnten ein Stück weit unser Gefahrenbewusstsein verloren haben. Das zeigt sich auch in anderen Bereichen, etwa wenn Kinder auf Bahngleisen spielen. Sie wissen nicht mehr, dass eine Schienenstrecke der Bahn kein Spielplatz ist.“ Darüber hinaus herrsche bei vielen Menschen eine Art „Vollkasko-Mentalität“: „Man hat den Eindruck, das eigentlich ja gar nichts passieren kann, weil es für alles irgendwo einen Schutz, eine Rettung, eine Hilfe gibt“, so Rosenberger. Ein Beispiel dafür seien Bergsteiger/innen, die sich bereits bei geringfügigen Problemen vom Hubschrauber abholen ließen.

Inbesitznahme
Laut Rosenberger wüssten die Menschen immer seltener, wie sich Tiere grundsätzlich verhalten. Das liege unter anderem an der Verstädterung. Früher seien die Menschen täglich mit Tieren in Kontakt gekommen und wussten intuitiv, was eine Mutterkuh tut, um ihr Kalb zu beschützen. Was außerdem eine Rolle spiele, sei die Neigung des Menschen, Dinge „einfach in Besitz zu nehmen“: „Man macht auf der Wiese ein Picknick und denkt überhaupt nicht darüber nach, dass das Futter für die Tiere sein könnte“, sagt Rosenberger. „Das Tier oder der Platz gehören mir und ich kann darüber verfügen.“ Natürlich messen auch die Landwirt/innen ihr Vieh ein Stück weit an der Milchleistung oder der Fleischmenge, die es bringen mag. „Aber die Bauern und Bäuerinnen wissen noch, dass die Kuh einen eigenen Willen und Bedürfnisse hat“, erläutert Rosenberger.

Verständnis für Bauern

Rosenberger hat Verständnis dafür, dass sich die Bauern wehren. Im Rauriser Krumltal im Salzburgerland versperrte etwa ein Landwirt den Zugang zu seiner Alm mit einem Holztor. „Absperren halte ich nicht für eine gute Lösung, weil ich selbst begeisterter Bergwanderer bin“, sagt Rosenberger. Es sei daher besser, nach Möglichkeiten einer Koexistenz zu suchen. Genau das tut die Landwirtschaftskammer Oberösterreich (LKOÖ). Präsidentin Michaela Langer-Weninger will die Almbesucher/innen nicht fernhalten, appelliert aber an deren Hausverstand: „Almen und Weiden sind einerseits Naturraum und werden andererseits landwirtschaftlich und touristisch genutzt. Das muss weiterhin partnerschaftlich möglich sein, indem jeder auf das Almvieh Rücksicht nimmt, es nicht erschreckt, die ausgeschilderten Wege benützt und keinen Müll zurücklässt.“
Für den Moraltheologen Rosenberger gehört es zur Grundhaltung der christlichen Religion, Ehrfurcht zu haben. „Wenn man mit einem kleinen Kind das erste Mal in die Kirche geht, bringt man ihm bei, ruhig und andächtig zu sein, erst einmal zu schauen und zu staunen.“ Lehre man diese Respektshaltung schon von klein auf im Rahmen von Gottesdienst und Religion, zeige das auch Wirkung über die Kirchenmauern hinaus.

Autor:

KirchenZeitung Redaktion aus Oberösterreich | KirchenZeitung

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