Syrien nicht vergessen
Hunger macht die Menschen stumm
Diese Bitte hinterließ P. Ibrahim Alsabagh bei seinem Salzburgbesuch. Er war Referent der Jahrestagung der Initiative Christlicher Orient (ICO) in St. Virgil. Der seit 2014 in Aleppo wirkende Franziskaner ist Pfarrer der römisch-katholischen Pfarre St. Francis und Ordensoberer der kleinen Franziskanergemeinschaft in der nordsyrischen Metropole. Er berichtet, dass 60 Prozent der Stadt zerstört sind und 85 Prozent der Bevölkerung in Armut leben. „Unsere Gesellschaft ist stumm – vor Hunger und Krankheit.“ Der Franziskaner erhebt im Rupertusblatt-Gespräch seine Stimme.
RB: Die Welt blickt auf die Ukraine. Syrien bekommt kaum noch Aufmerksamkeit. Dabei herrscht im Land seit mehr als zehn Jahren Krieg. Kinder kennen ihre Heimat nicht im Frieden.
P. Ibrahim Alsabagh: Papst Franziskus sagt: Angesichts solch immensen Leidens ist die Kirche dazu berufen, ein „Feldlazarett“ zu sein, um die körperlichen und geistigen Wunden zu heilen.Wir sind in das zwölfte Kriegsjahr eingetreten, und es ist noch nicht vorbei. Die Auswirkungen sehen wir in den Gesichtern der Kinder.
RB: Können Sie den Alltag in Aleppo beschreiben?
P. Ibrahim: Die Stadt ist zu 60 Prozent zerstört. Inmitten der Sommerhitze gab es alle 15 Stunden nur eine Stunde lang Strom. Die Häuser haben sich in Öfen verwandelt, die Menschen konnten nachts nicht schlafen, Mütter keine Waschmaschine einschalten und keine Lebensmittel aufbewahren, weil die Kühlschränke nicht funktionierten. Es mangelt an Benzin für Autos und an Heizöl. Für den Winter heißt das, es wird wieder eiskalt in den Wohnungen. Die Wirtschaftssanktionen lähmen alles und wir erleben einen Zusammenbruch des syrischen Pfunds gegenüber dem Dollar. Die Preise steigen ständig, während die Gehälter und die Renten gleich bleiben. Es kommt vor, dass Familien in nur vier Tagen ihr ganzes Einkommen für Lebensmittel ausgeben müssen. Für Brot stehen sie stundenlang an. Hunger und Entbehrungen bestimmen den Alltag. Tatsächlich leben mehr als 85 Prozent unterhalb der Armutsgrenze.
Dann kam der Krieg in der Ukraine. Es schmerzt uns sehr zu sehen, dass sich unsere Tragödie in einem anderen Land wiederholt. Die direkte Folge für uns war eine Weizenknappheit, die den Hunger noch vergrößerte. Die Menschen sind einfach schon zu geschwächt, um mit all dem fertig zu werden.
RB: Wie kann unter diesen Bedingungen jemand überleben, der krank ist?
P. Ibrahim: Seit Beginn des Krieges sind viele Ärzte und Pflegekräfte abgewandert. Krankenhäuser sind zerstört und dazu kommt das Fehlen einer wirksamen Krankenversicherung. Früher ist der Staat bei Krebs, Diabetes oder Multipler Sklerose für die teuren Medikamente aufgekommen. Jetzt trauen sich Patienten nicht mehr zum Arzt zu gehen, weil sie die Behandlung nicht bezahlen können. Das gilt auch für Operationen. Außerdem sind in der letzten Zeit wegen mangelnder Hygiene Cholera und Typhus wieder aufgetreten.
RB: Haben die Menschen überhaupt noch Hoffnung?
P. Ibrahim: Ich möchte unsere Gesellschaft mit einem Patienten vergleichen, der vor Hunger und Krankheit nicht einmal mehr schreien kann. Er ist verstummt. Der Patient kämpft und hängt an Maschinen und Schläuchen. Nur die künstliche Beatmung lässt ihn noch leben. So geht es den Menschen in Aleppo. Sie können ohne Unterstützung nicht überleben und haben keine Zukunft. Aber wenn ich die Kinder in der Pfarre vor mir haben, weiß ich: Es gibt doch eine Zukunft. Unser Auftrag als Kirche und Franziskaner ist es, präsent zu sein und das Kreuz von den Schultern der Menschen zu nehmen. Dabei sind wir Seelsorger, Sozialarbeiter sowie Vater und Mutter für die Kinder wie für die Erwachsenen.
RB: Der Titel der ICO-Tagung war: Syrien, Wege zum Frieden. Ist eine friedliche Lösung in Sicht?
P. Ibrahim: Ich sehe keine. Es waren an die zehn Armeen, die in Syrien gekämpft haben und zwar für ihre Interessen. Die Leid Tragenden war die syrische Bevölkerung. Und der Kampf geht weiter. Die Lösung liegt nicht in unserer Hand. Unsere Antwort als Franziskaner auf den Krieg ist Nächstenliebe. Das leben wir, das ist unsere Mission. Wir sind inmitten von Unsicherheit zu einem Ort der Hoffnung geworden.
RB: Die Pfarre St. Francis betreibt eine Suppenküche. Wie viele Mahlzeiten können Sie verteilen?
P. Ibrahim: Die Fortsetzung der Wirtschaftssanktionen und die Corona-Krise haben das Leid der Bevölkerung weiter vergrößert. Eine Art Weckruf war das Erlebnis mit Kindern. Nach dem Religionsunterricht hatten wir Hamburger für sie vorbereitet. Wiir hörten die Kinder untereinander flüstern. Sie konnten nicht glauben was sie vor sich hatten und beäugten das angebotene Stück Fleisch. Einige aßen nur einen Teil der Jause, um den Rest für die Geschwister mit heim nehmen zu können. Mit Hilfe von ICO starteten wir dann die Sozialküche. Anfangs gaben wir dreimal pro Woche Mahlzeiten für 400 Personen aus und später konnten wir auf täglich 1.000 Essen erhöhen – für Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, Christen und Muslimen, für jene, die es am meisten brauchen. Ehrenamtliche unterstützen uns bei all unseren Projekten.
RB: Mit welchen Projekten helfen Sie noch?
P. Ibrahim: Es sind mehr als 30 Projekte. Das geht vom Verteilen von Lebensmittelkörben bis hin zur Übernahme von Strom- und Operationsrechnungen. Wir greifen Menschen unter die Arme, um ihre Häuser wieder bewohnbar zu machen – bisher 1.700. Ein Schwerpunkt liegt bei Kinder und ihren Müttern. Das fängt bei der Bezahlung der Geburtskosten an, der Bereitstellung von Windeln und Babynahrung bis zur Übernahme von Studien- und Universitätsgebühren. Und wir helfen jungen Leuten, die heiraten wollen. Die Jungen wollen weg. Das ist ein unvorstellbarer Verlust für das Land. Wir verlieren die Menschen, mit denen wir eine Zukunft aufbauen sollten. Es ist eine große Herausforderung ihnen eine Perspektive aufzuzeigen.
RB: Was bedeutet die Unterstützung von ICO für die Pfarre und für die Menschen?
P. Ibrahim: Es sind eine Reihe von Aktiviäten, die wir dank ICO realisieren können: Die Sozialküche oder zweimal im Jahr die Verteilung von Kleidung an mehr als 1.200 Kinder. Im Sommer konnten wir für sie ein Ferienprogramm organisieren mit Spielen und Katechese. Es war sehr beeindruckend mit tausend Kindern die hl. Messe zu feiern. Die Verbindung zu unseren Freunden von ICO zeigt uns, wir sind nicht allein. Aber auch die Worte von Papst Franziskus oder Besuche von Bischöfen geben uns Kraft. Das ist der Geist der Synodalität.
RB: Bischof Armash Nalbandian warnte bei der Tagung in Salzburg vor einem Nahen Osten ohne Christen. Teilen Sie diese Meinung?
P. Ibrahim: Unsere Pfarre besteht nur mehr aus 600 Familien. Insgesamt leben noch 40.000 Christen in der Stadt. Bei Kriegsausbruch waren es 160.000. Dabei sind die Christen im Nahen Osten keine Gäste. Sie waren von Beginn an hier. Doch der Exodus hält an. Das ist eine Katastrophe.
RB: Was hält Sie aufrecht?
P. Ibrahim: Es ist nicht wahr, dass wir hilflos sind und nichts tun können, denn durch die Liebe sind wir in der Lage, Wunder zu wirken. Wir allein sind schwach, aber mit Gott haben wir eine unbezwingbare Kraft. Ich und meine Brüder beten für den Frieden in Aleppo, im Nahen Osten und in der Welt.
Autor:Ingrid Burgstaller aus Salzburg & Tiroler Teil | RUPERTUSBLATT |
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